Slide - Durch die Augen eines Mörders
überziehen – dann könnte ich mich davon überzeugen, dass er einen guten Grund hatte, sie an dem Abend zu treffen, und dass er nicht der Mörder ist.
Ich könnte mitten in sein Leben wandern und … alles herausfinden. Was er die ganze Zeit macht, wenn er nicht in der Schule oder bei der Arbeit ist. Was er zu Hause vor mir verbirgt. Weshalb er mich nie zu sich einlädt. Es juckt mich, seine Geheimnisse aufzudecken. Andererseits wäre es fast so, als würde ich mich in seine E-Mails hacken oder sein Tagebuch lesen. Als ich versehentlich in ihn gewandert war, fühlte es sich komisch an, war aber nicht meine Schuld. Doch wenn ich ihn bewusst auswähle, indem ich dasselbe T-Shirt noch einmal anziehe, wäre es anders. Dann würde ich spionieren.
Aber ich hätte gute Gründe dafür, oder? Ich könnte ihn von jedem Verdacht reinwaschen. Wenn man mit guten Absichten in eine fremde Privatsphäre eindringt, ist es nicht ganz so schlimm. Ich schließe die Augen und erinnere mich, wie es früher zwischen uns war. Ich vermisse unsere albernen Gespräche darüber, wer einen Zweikampf gewinnen würde – Chuck Norris oder Mr T. Ich vermisse sein teuflisches Grinsen. Ich vermisse das Mädchen, das ich damals war.
Ich muss das mit uns wieder in Ordnung bringen, und mir fällt kein anderer Weg ein, als in ihn zu wandern.
Nachdem meine Entscheidung gefallen ist, bücke ich mich und ziehe den Stoff mit dem kleinen Finger zu mir heran. Ich lege mich aufs Kissen und drücke das T-Shirt ans Kinn. Erstaunlich, wie schnell ich verschwinde. Ich bekomme richtig Übung darin.
Der Geruch ist beißend, wie fauliger Brokkoli und Urin. Wasserflecken und Risse ziehen sich über die Wände. Ich liege auf einer Matratze mit blauem Laken und schaue zur Decke hinauf.
Ich höre einen Song, den ich kenne –
Thinking of you
von
Perfect Circle
. Letztes Jahr war Rollins einen ganzen Monat lang von diesem Song besessen, er lief in seinem Auto in Endlosschleife. Die Drums sind intensiv und pulsieren in meinem Kopf.
Ich drehe etwas wie einen Taktstock in den Händen. Ich weiß, was es ist, muss gar nicht hinsehen. Ein Edding. Das Schwert, mit dem Rollins die Welt zerteilt. Er hört auf, ihn zu drehen, und trommelt damit auf seinen Bauch.
Sein Zimmer sieht trostlos aus, nur eine Matratze, eine kleine Kommode und ein Regal mit alten Taschenbüchern. Als wir noch viel zusammen rumhingen, ging er jedes Wochenende in den Laden für gebrauchte Bücher und schleppte ganze Tüten heraus. Ein Regal ist Stephen King gewidmet. Ich weiß, sein Lieblingsroman ist
Dead Zone – Das Attentat
.
Die Tür geht auf, und ein Typ im roten Flanellhemd poltert herein. Das muss sein Onkel Ned sein.
»Du hast deinen Scheiß heute nicht gemacht«, sagt der Typ. Es ist ein Vorwurf, worum es geht, weiß ich nicht.
Rollins setzt sich hin. »Welchen Scheiß?«
»Es ist Samstag. Du bist mit Baden dran.«
Rollins flucht. »Hat das nicht Zeit bis morgen?«
»Sie ist
deine
Mutter.« Der Mann deutet auf Rollins.
Seufzend steht Rollins auf und geht an dem Mann vorbei aus dem Zimmer. Eine drahtige Frau sitzt in einem Rollstuhl und schaut sich Zeichentrickfilme an. Ihr Haar ist völlig verfilzt.
»Zeit fürs Baden«, sagt er mit angespannter Stimme.
Kein Wunder, dass er mich nie zu sich eingeladen hat. Mit seinem mürrischen Onkel und seiner behinderten Mutter hat er vermutlich genug am Hals. Ich glaube, es war falsch von mir hierherzukommen.
Rollins schiebt die Frau durch den Flur ins Bad, das aussieht, als wäre es seit Jahren nicht geputzt worden. Er dreht das Wasser an der Wanne auf und stellt sorgfältig die Temperatur ein.
Dann hilft er seiner Mutter beim Ausziehen und schaut dabei zur Decke hoch. Sie hebt die Hände, und er streift ihr das T-Shirt über den Kopf. Sie muss sich auf ihn stützen, während er Hose und Unterhose herunterzieht.
Ich spüre, dass er sich selbst irgendwie ausgeschaltet hat. Er ist auf Autopilot. Er hilft ihr in die Badewanne und stützt sie, damit sie nicht ausrutscht und hinfällt. Er nimmt eine große Tasse und schüttet ihr Wasser über den Kopf, sie klatscht vor Freude in die Hände. Als er Seife auf einen alten rosa Waschlappen gibt und ihre Schultern und Brüste wäscht, blende ich mich aus.
Bald ist das Baden erledigt, seine Mutter abgetrocknet und wieder auf ihrem Platz vor dem Fernseher. Rollins schlendert zurück in sein Zimmer und ballt die Fäuste, als er an seinem Onkel vorbeigeht, der gerade eine Bierdose
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