Smaragdjungfer
nicht Kastor war. Bevor sie der Frau zurufen konnte, in die Wohnung zu gehen und die Tür zu schließen, klappte oben bereits eine Tür. Danach war dort alles ruhig. Auch Kastors Schritte waren verstummt.
Dass sie beinahe auf eine Unbeteiligte geschossen hätte, brachte sie wieder weit genug zu Verstand, dass ihre antrainierten Verhaltensweisen einsetzten. Eigentlich hätte sie auf die Verstärkung warten müssen. Kastor allein zu folgen, war nicht nur gegen die Vorschrift, sondern auch gefährlich. Aber sie kannte das Haus nicht und wusste nicht, ob es oben nicht doch irgendeine Fluchtmöglichkeit gab, durch die er entkommen konnte. Er durfte nicht entkommen. Er hatte Lukas erschossen.
Nach dem zweiten Stock folgte nur noch der Aufgang zum Dachgeschoss. Paula hielt den Atem an und lauschte. Sie hörte lediglich die aufgeregten Stimmen der jungen Leute im Stockwerk unter ihr. Die Hände mit der Waffe vorgestreckt, stieg sie Stufe um Stufe so leise wie möglich weiter nach oben. Ihr Mund war trocken vor Angst. Die Schmerzen von den Schlägen, die Kastors Gorillas ihr verpasst hatten, waren wieder stärker geworden.
Sie ignorierte es. Sie musste ihn fassen. Um jeden Preis.
Im Dachgeschoss gab es nur eine einzige Tür, die auf den Dachboden führte. Sie war geschlossen. Paula schob sich Schritt für Schritt vorwärts und musste sich mit aller Gewalt dazu zwingen weiterzugehen. Alles in ihr drängte sie, die Flucht zu ergreifen. Aber sie war Polizistin, verdammt!
Das Flurlicht erlosch.
Paula zuckte zusammen und presste sich gegen die Wand, halb in der Erwartung, dass Kastor herausgestürmt kam und auf sie schoss. Nichts geschah. Mit zitternden Fingern zog sie die kleine Stablampe aus der Gesäßtasche, die sie vorsichtshalber mitgenommen hatte, und schaltete sie ein. Sie hielt sie unter die Pistole und drückte mit dem Ellenbogen langsam die Klinke herunter. Stück für Stück schob sie die Tür mit dem Fuß auf.
Der Raum dahinter war stockfinster. Der Strahl der Taschenlampe traf auf Gerümpel, das hier abgestellt worden war. An der Decke hingen leere Trockenleinen.
Sie lauschte angestrengt, aber es war nichts zu hören, nicht mal ein Atemgeräusch. Sie schob sich weiter in den Raum hinein. Die Dachluken waren geschlossen. Und auch nicht groß genug, dass ein erwachsener Mann hätte hindurchklettern können. Einen anderen Ausgang gab es nicht. Kastor musste also noch hier sein. Und der einzige Ort, an dem er sich verstecken konnte, war der Gerümpelberg.
Paula ging langsam darauf zu, alle Sinne und Nerven aufs Äußerste angespannt, bereit, im Bruchteil einer Sekunde zu reagieren. Eine alte Matratze lehnte schräg an der Wand und ließ genug Platz für ein gutes Versteck. Sie sprang nach vorn und richtete ihre Waffe auf die Lücke dahinter. Der Lichtstrahl der Taschenlampe traf keine zwei Meter vor ihr auf eine dunkle Gestalt und wurde vom glänzenden Lauf einer Pistole reflektiert. Die Mündung zeigte genau auf Paula.
Bevor sie reagieren konnte, drückte ihr Gegenüber ab.
Witold Graf hatte sich von der Besprechung zurückgezogen, die im Salon seines Hauses stattfand, um nachzudenken und seine weiteren Schritte zu planen. Mit einem Glas Cognac in der Hand, saß er im Wohnzimmer und starrte durch das Glas in das Feuer des Kamins. Die Flammen ließen die goldgelbe Flüssigkeit erglühen. Normalerweise beruhigten ihn das Flackern des Feuers und das Bouquet des Cognacs. Heute jedoch schien ihm beides wie Vorzeichen eines flammenden Infernos, das ihn zu verschlingen drohte.
Einer seiner Informanten hatte ihm von fünf Minuten mitgeteilt, dass es ein Problem gab, das sich sehr schnell zu einer Katastrophe entwickeln konnte. Genau genommen sogar zwei. Falls dieser Super-GAU eintrat, könnte er ihn in den Abgrund reißen. Er musste deshalb entscheiden, wie es nun weitergehen sollte. Möglichst bevor er in den Salon zurückkehrte, um – nach außen hin gelassen wie immer – seinen Gästen gegenüberzutreten und sich nicht anmerken zu lassen, dass etwas nicht in Ordnung war. Am allerwenigsten gegenüber der Person, von der die Gefahr ausging.
Wenigstens in einem Punkt hatte ihn sein Informant beruhigen können. Die Daten waren unwiederbringlich gelöscht.
Graf zuckte zusammen, als das Telefon erneut klingelte.
»Ja?«
Abrupt stellte er den Cognacschwenker ab und umklammerte das Telefon so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
»Wie konnte das passieren?« Seine Stimme klang völlig ruhig, obwohl in
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