Smart Magic
fliehen, aber Flucht ist das Einzige, was uns geblieben ist. Sonst nehmen sie uns mit über das große Meer in ihr Land, wie sie es mit unseren Ahnen getan haben, und wir sehen nie wieder die Sterne, unter denen wir geboren wurden. Wir können sie nicht besiegen, und wenn sie uns gefangen nehmen, sterben wir unter einem fremden Himmel, allein, fern unserer Familien, unserer Stämme, unseres Volkes.«
Darauf gab es keine Antwort. Matani senkte den Kopf und sagte nichts. Sie konnte spüren, dass Atin die Wahrheit sagte. Sie selbst hatte vor den Sehenden gestanden und wusste, dass die Stämme diesen Kampf bereits vor vielen Generationen verloren hatten. Vielleicht war es feige zu fliehen, doch sie hatte in der vergangenen Nacht gesehen, wozu die Fremden in der Lage waren. Dies war kein Kampf, den man mit Bogen und Steinschleuder gewinnen konnte.
Aber sie wusste auch, dass es dennoch nicht richtig war, aufzugeben. Die Fremden kamen und nahmen das Land, das niemandem gehören sollte, und sie nahmen die Menschen, die frei sein sollten, und machten sie zu Gefangenen. Matanis Volk verschwand tiefer in den Ebenen, wann immer das geschah, es ging mit dem Wind. Aber irgendwann wird es kein Gräsermeer mehr geben, durch das der Wind fährt. Irgendwann wird es keine Orte mehr geben, an denen die Fremden nicht den Boden verbrennen und ihre Steinhäuser bauen.
Atin sah sie forschend an, und Matani nickte. Sie hatte verstanden. Dann ließ sie sich wieder zurückfallen. Noch erstreckte sich vor ihnen eine schier endlose Weite, ein nicht eingelöstes Versprechen von Freiheit. Noch konnte ihr Stamm dorthin gehen, wo kein anderer war, und die Fremden und alles, was sie mit sich brachten, hinter sich lassen. Aber Matani ahnte, dass es nicht mehr lange so sein würde. Zu oft erschienen die Fremden auch an den neuen Orten, zu oft errichteten sie Lager, zu oft ritten ihre Krieger durch die Steppe, auf der Suche nach Matanis Volk.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sie einholen würden.
Unter freiem Himmel
Unter freiem Himmel
»Und du denkst echt, dass jetzt schon zweimal ein Rabe mit dir gesprochen hat?«
Tom wusste auf die Frage erst einmal nichts zu sagen. Er saß im Zimmer der Mädchen unten auf einem der Doppelstockbetten, die Beine unter sich angezogen, und zuckte mit den Schultern. Karo lag ihm gegenüber auf ihrem Bett und starrte ihn mit großen Augen an. Als die Stille ihm unangenehm wurde, murmelte er: »Keine Ahnung.«
Das war eigentlich keine Antwort, aber die einzige, die er hatte. Er wusste, dass es verrückt klang, wenn man von sprechenden Raben erzählte. Andererseits hatten ihm einige seiner Freunde fraglos geglaubt und ihm Mut gemacht, mehr über das sprechende Vieh herauszufinden.
Karo setzte sich auf. Sie war nicht groß für ihre zwölf Jahre, und ihre oft ernste Miene ließ sie meist auch noch älter wirken. Sie hatte ihr dunkelblondes Haar mal wieder kürzer schneiden lassen und trug es zu einem kleinen Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Sie stützte das Kinn in die Hand und schien zu grübeln.
»Vielleicht ist es wie bei einem Papagei. Die können doch auch alles nachplappern, was man ihnen beibringt, oder?«
»Vielleicht«, erwiderte Tom unsicher. »Aber wer würde denn einem Raben beibringen, meinen Namen zu sagen?«
Jetzt, einige Tage später, erschien ihm die Geschichte immer unwirklicher. Er hatte sich im Netz über Raben schlaugemacht, hatte von Freunden online Hinweise auf die klugen Vögel in alten Mythen erhalten und wusste inzwischen, dass es für sie durchaus typisch war, Nüsse auf eine clevere Art und Weise zu knacken. Irgendwie klang es plausibel, dass es, wenn es in Europa überhaupt so etwas wie sprechende Vögel gab, Raben sein mussten. Andererseits waren es immer noch Vögel. Und nicht einmal Schimpansen konnten sprechen, dabei waren das laut Biounterricht die klügsten Viecher überhaupt. Vielleicht habe ich mir wirklich nur eingebildet, dass der Rabe mit mir gesprochen hat.
Karo stand auf und zog einen abgewetzten Rucksack unter ihrem Bett hervor, den sie mit beiden Händen vom Staub befreite. In ihrem weiten T-Shirt wirkte sie noch schmaler als gewöhnlich, aber Tom wusste, dass der zerbrechliche Eindruck täuschte. Wenn sie gemeinsam kickten, war sie ein wieselflinker Gegner, obwohl Tom deutlich größer und stärker war. Und er hatte einmal eine Prügelei zwischen ihr und einem älteren Jungen auf dem Schulhof beendet, bei der ihr Gegner gar nicht gut ausgesehen
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