Snapshot
Millimeter an und schob es eine Spur nach links, um einen Cop einzufangen, der mit einer Mischung aus Neugier und Ekel auf die Leiche hinabblickte. Das Surren des Motors schien die Aufmerksamkeit des Cops zu erregen, doch als er Winter misstrauisch beäugte, hatte der die Kamera schon wieder gesenkt. Er erwiderte das Starren mit einem ausdruckslosen Blick. Seine Arbeit war getan.
Einen guten Meter weiter und doch in einer ganz anderen Welt– zumindest nach seiner Kleidung und seinem Ford Focus zu schließen– lag ein Mann in einem Burgundersee und schlief den Schlaf der Unglücklichen. Winter schätzte ihn auf Mitte fünfzig, aber dabei konnte er sich nur an seine Klamotten und die grauen Strähnen halten, die sich in sein Haar eingeschlichen hatten. Denn da, wo früher mal sein Gesicht gewesen war, war jetzt ein blutiges, in brutalem Karminrot gehaltenes Loch. Das weiche Fleisch, der Knochen, Knorpel, alles war von der Kugel fortgerissen worden.
Winter sah braune Freizeitschuhe mit Sohlen, auf denen man problemlos durch feuchtes Laub oder einen regennassen Garten laufen konnte. Er sah eine dunkelbraune Cordhose und einen wenig vorteilhaften dunkelgrünen Pullover über einem alterstypischen Bauchansatz. Er sah einen Vater und Großvater, einen fleißigen Angestellten und Familienmenschen.
Heute Abend würde jemand ein kleines Mädchen und einen kleinen Jungen beiseitenehmen, um ihnen zu erklären, warum ihr Opa für immer fort war. Irgendjemand würde versuchen, einem Siebenjährigen begreiflich zu machen, wie man sterben konnte, bloß weil man tanken gehen wollte.
Aber vermutlich würden nicht mal die Enkel so schockiert sein, wie es der Mann selbst gewesen war. Obwohl er kein Gesicht mehr hatte, war seine Verblüffung überdeutlich zu erkennen. Er war mit ausgebreiteten Armen auf den Rücken gekracht, völlig desorientiert, flehend, panisch.
Winter ging ganz nah an das gesichtslose Gesicht heran, um jedes schreckliche Detail der Schussverletzung in den Vordergrund zu holen. Was er hier sah, konnte nicht mal er als » schön« empfinden. Hier war allem Anschein nach tatsächlich der falsche Mann am falschen Ort auf die falschen Leute getroffen. Und da er nicht mal mehr Augen hatte, in denen sich sein Übertritt in die andere Welt spiegeln konnte, wussten weder er noch Winter, wohin er sich verabschiedet hatte oder woher er gekommen war.
Am Schluss trat Winter etwas zurück, um die beiden Opfer auf einmal zu erwischen, ein Kunststück, das nicht mal dem Scharfschützen gelungen war. Zwei Männer, die sich niemals hätten begegnen dürfen. Falls es so etwas wie Himmel und Hölle gab, waren sie sicherlich in entgegengesetzte Richtungen abgezogen.
Als er sich vom starren Körper des älteren Mannes löste und auf den dritten Toten zusteuerte, lief eine schlanke Gestalt an ihm vorbei in die entgegengesetzte Richtung. Selbst in weißem Overall, mit Überschuhen, Kapuze und Mundschutz sah Cat Fitzpatrick großartig aus. Ihr Haar war nicht zu erkennen, doch ihre grünen Augen und ihr geschwungenes Hinterteil waren unverkennbar. Für einen Moment beobachtete er, wie sie auf Shirleys Befehl in die Jacke des Opfers griff, doch er hatte keine Zeit zum Glotzen. Die nächste Leiche wartete.
Sie wartete etwa zwanzig Schritt weiter. Der Tote lag mit dem Gesicht nach unten in einer rotbraunen Pfütze und klammerte sich an den Boden, als ginge es noch um Leben und Tod. Blut klebte an seinen weißen Sportschuhen, an seiner ausgeblichenen Jeans, an seiner braunen Lederjacke, in seinem rötlichen Haar. Das bisschen Hirn, das er mal im Kopf gehabt hatte, hatte sich neben ihm verteilt. Sein Gesicht war eingedrückt, die Nase ähnelte der eines Boxers. Schlaffe Augen, ein hängender Kiefer, der sich ins Unausweichliche gefügt und keine Zeit mehr gehabt hatte, vor dem dreckigen Asphalt zurückzuschrecken. Der Tote war gerade mal zwanzig Jahre alt und sah aus, als würde er jeden Moment nach Mami schreien. Wenn es dafür nicht schon zu spät wäre.
Er hatte gewusst, was auf ihn zukam. Er muss es gewusst haben. Vielleicht hatte er den Schuss gehört, der seinen Kumpel erledigt hatte, oder den Schrei, das Brüllen, den Aufprall des Körpers. Wahrscheinlich war er noch schneller gerannt, aber vor manchen Dingen konnte man nicht davonrennen. Und zack, waren die Lichter ausgegangen, und er hatte die Grenze zum Nichts überschritten. Oder zum Etwas, wer wusste das schon.
Winter visierte die trüben grünen Augen an, um einzufangen,
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