Snobs: Roman (German Edition)
was für einen Sinn hätte es, sie in ihrer Entscheidung zu bremsen? Den Rest des Essens plauderten wir über Simon und die Schauspielerei und Isabel und Wohnungskäufe, doch als wir aufbrachen, griff Edith das Thema noch einmal auf.
»Ich werde darüber nachdenken.« Sie lächelte schwach. »Natürlich wissen wir beide, dass ich tun werde, worum man mich bittet, aber lass mich eine Weile nachdenken. Ich ruf dich an.«
Edith Broughton fuhr nicht sofort nach Hause – besser gesagt, in die Ebury Street. Es war ein frischer, sonniger Frühlingstag, alles war gestochen scharf wie ein Scherenschnitt und von einem juwelenhaften kalten Glanz. Edith war warm angezogen und bog, als sie das Ritz passiert hatte, nach links in den Green Park ein. Sie schlenderte am Wimborne House vorbei, an der glanzvollen, mit Statuen geschmückten Fassade des restaurierten Spencer House, an der italienisierenden Pracht des Bridgewater House; vor dem Lancaster House blieb sie stehen und blickte an dem massiven goldenen Gebäude hoch, das von
den mächtigen Dukes von Sutherland erbaut und viele Jahre lang bewohnt worden war. Ihre Gattinnen hatten über die Londoner Gesellschaft geherrscht, hatten die Großen und Tüchtigen der jeweiligen Epochen zu sich gerufen, damit sie die riesige Treppe der mit Gold ausgekleideten Empfangshalle, der großartigsten von ganz London, emporstiegen und ihrem Reichtum und ihrer Macht huldigten.
Da kam Edith der Gedanke, dass sie diese ältere, einfachere Welt geschätzt hätte, in der solche Herrenhäuser die Hauptstadt beherrschten. Als statt der Wohltätigkeitsorganisationen, Ministerien und griechischen Reedermagnaten, die dort Einzug gehalten hatten, noch die Guests und die Spencers und die Egertons und die Leverson-Gowers unter den Dächerkaskaden das ihnen vorbestimmte Leben führten. Sie vergaß einen Moment lang, dass sie, Edith Lavery, in allen Zeiten außer der gegenwärtigen die größten Schwierigkeiten gehabt hätte, auch nur in die äußersten Randbereiche dieses goldenen Zirkels vorzudringen; sie sah sich in ihrer Krinoline, glücklich, da sie ihr eigenes Glück niemals in Frage gestellt hätte. Dabei fiel ihr eines auf: Diese Fantasien von der alten Welt vor dem Ersten Weltkrieg ähnelten stark den Fantasien von ihrem künftigen Leben als Lady Broughton, denen sie sich vor ihrer Hochzeit so gern in der Badewanne hingegeben hatte. Wie einfach alles sein würde, wie die Dorfbewohner und Pächter sie lieben würden, wie die Familie den Tag segnen würde, als sie, Edith, dazustieß! Sie lächelte wehmütig, als das Traumbild ihrer selbst als große gesellschaftliche Kraft in den vornehmen Kreisen des einundzwanzigsten Jahrhunderts vor ihrem inneren Auge verblasste, sich in Nebel hüllte und ihr zum Abschied tränenreich zuwinkte.
Bei solchen Grübeleien kam es ihr in ihrem wirren Denken zuerst vor, als hätte sich ihre Mutter geirrt, als hätten die Medien von Anfang an Recht gehabt, als wären solche Träume und ehrgeizigen Pläne längst überholt, als wünschte sich niemand heutzutage Rang und Titel und ererbte Macht, als lebte man nun in einer Zeit, in der sich Erfolg durch persönliche Leistung, durch Talent, durch Kreativität definiert. Doch wenn sie sich unter den Büroangestellten, Straßenkehrern
und Arbeitssuchenden umsah, die durch den Park trödelten, stieß ihr die Unaufrichtigkeit der modernen Medienexperten auf. Gab es hier auch nur einen Menschen, der nicht sofort mit Charles getauscht hätte? Priesen die TV-Gurus womöglich deshalb die Leistungsgesellschaft, weil sie nur in einem solchen System selbst bis zur höchsten Stufe der Leiter hochklettern konnten? Auch wenn ohne Mühen erworbener Reichtum und Rang kein moralisches Verdienst besaßen, auch wenn dies nur Träume waren, die keiner zuzugeben wagte, waren es doch Träume, die immer noch die Fantasie vieler Menschen beherrschten. Und sie hatte sie achtlos verworfen.
Dann dachte sie mit Staunen und Befremden wieder an ihr eigenes angebliches Leiden in ihrer Beziehung mit Charles. Warum war sie eigentlich so unglücklich gewesen? Wenn sie versuchte, an ihre gemeinsame Zeit zurückzudenken, kamen ihr immer diese hübschen Räume in Broughton in den Sinn, die Bediensteten, der Park, ihre Arbeit im Dorf. Die einzigen Unannehmlichkeiten, an die sie sich erinnern konnte, waren Dinge wie das Beladen des Autos oder Jagdausflüge im Regen, bei denen sie hinter Charles stand. War das wirklich so schrecklich? Und an Charles selbst
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