Snow Angel
Raserei. Sie liegt ganz still unter ihm, gibt ihm Zeit, beobachtet nur, wie der Widerschein des heruntergebrannten Feuers sich auf seinen Schultern spiegelt. Es kommt ihr vor, als würde er den Moment fürchten, in dem er sich endlich von ihr lösen und ihr in die Augen sehen muss. Lange verbirgt er den Kopf an ihrer Halsbeuge, sagt kein Wort.
In ihren Blickwinkel schiebt sich langsam Bens erwartungsvolles Gesicht. Nina zwinkert ihm zu, was ihm zu seiner überschäumenden Freude offenbar klar macht, dass er bemerkt worden ist. Jetzt ist Simon dran. Im Nu hat der Hund die feuchte Schnauze begeistert in sein Ohr gedrückt. Ausgiebig schlabbert Ben seinem Herrn über die Wange.
„Geh runter von mir! Du riechst ja wie dein Hund.“ Nina will ihm die lahme Retourkutsche nicht ersparen und ist froh über die Auflösung der angespannten Situation, froh, dass ihr überhaupt etwas eingefallen ist. Hohle, leere Worte, im Augenblick überhaupt nicht witzig, dem wirklichen Ernst der Lage eigentlich völlig unangemessen. Aber besser als gar nichts.
Simon springt hoch, ein aufgesetztes Lachen im Gesicht, schimpft mit Ben, reicht Nina die Hand, hilft ihr, von den Fellen aufzustehen.
Sie sieht durch die offene Tür, wie er im Bad prustend den Kopf unter den plätschernden Wasserhahn hält, krault Ben, der neben ihr steht und auf seinen Spaziergang wartet, hinter den Ohren.
„Guter Hund“, flüstert sie ihm zu.
Schnell zieht sie sich an. Nina fröstelt. Es ist ein bisschen die Kühle des Raumes. Und ein bisschen die Unsicherheit über seinen Gefühlsausbruch. Genau genommen ein bisschen sehr viel mehr Letzteres. Sie möchte jetzt nicht nackt sein, sehnt sich nach wärmendem Schutz. Und nach Sichtschutz. Nichts ist mehr so klar, wie es heute Morgen war. Die Sintflut ist über sie geschwappt und nun ist „nach der Sintflut“. Sie fühlt sich wie der sprichwörtliche „begossene Pudel“, denn
es bleibt die quälende Frage: Was, wenn sie wiederkommt?
Sie dreht sich in ihrem Kopf. Wieder und wieder. Jetzt, wo sie alles weiß und sich vollkommen der Tatsache bewusst ist, dass er auf ihr „Ich liebe dich“ nicht erwidert hat, wird ihr grausam klar, wie sehr sie sich doch getäuscht haben könnte. Getäuscht mit der Einschätzung, ihn für sich gewonnen zu haben.
Was habe ich der Lebensplanung von Simon und Laura schon entgegenzusetzen? Kann ich glauben, dass eine Liebesnacht, anderthalb Liebesnächte mir eine unverrückbare Position in seinem Herzen bescheren könnten? Wie viele Frauen diesem Irrtum wohl schon aufgesessen sind?
Sie bräuchte jetzt Zeit für sich allein. Müsste in Ruhe nachdenken können. Und weiß, dass es nur Minuten sein werden, bis er mit Ben zurückkommen wird. Bis er den Raum wieder vollkommen mit seiner Präsenz gefüllt haben wird. All ihre Unbefangenheit ist zum Teufel.
Wie immer, wenn sie unter Druck ist, sucht sie sich etwas Praktisches zu tun. Nina legt Holz im Kamin nach, feuert den Kachelofen an, setzt Wasser auf um neuen Tee zu brühen. Sie schüttet die Tassen mit der abgestandenen kalten Plörre von vorhin weg. Von vorhin, als sie noch gehofft hatte, bei einer heißen Tasse Tee in aller Ruhe Ordnung und Licht ins Chaos bringen zu können.
Jetzt ist alles schlimmer als vorher. Nichts ist klar. Gar nichts!
10. Kapitel
Der Abend wird eine komplette Pleite.
Beide sind sich der Tatsache bewusst, dass diese eine Frage zwischen ihnen stehen geblieben ist.
Die Gespräche drehen sich um lapidare Dinge. Einzig, als Simon von ihr wissen will, was für Pläne sie nach dem Abitur hat, ergibt sich ein sehr persönlicher Anhaltspunkt.
Während sie ihm erläutert, warum sie sich für das Fach Pharmazie entschieden hat, wird ihr bewusst, dass sie eigentlich schon seit Stunden Kopfweh hat.
„Hast du vielleicht ein Aspirin im Haus? Ich habe einen Kopf wie ein Rathaus!“
„Wie viel brauchst du?“
„Na, eine! Ich nehme sehr selten Schmerzmittel“, erwidert sie.
„Ich habe sicher Novalgin im Auto, aber Aspirin? Warte, ich schau mal im Bad nach ob da noch was von …“
... Laura ist
, beendet Nina den Satz im Geiste und erinnert sich an die Schachtel, die ihr gestern Abend aus dem kleinen Badschränkchen entgegengefallen ist.
Simon kommt wieder, hält ihr ein Glas Wasser hin und lässt die Pillen in ihre Hand rutschen.
„Das sind 5! Ich brauche doch nur eine.“
„Das sind fünf Hunderter. Wenn du normalerweise eine nimmst, passt das so. Da
Weitere Kostenlose Bücher