Snow Angel
eilig an und krault noch einmal dem verschlafenen Ben die Ohren. Sie legt den Zeigefinger an die Lippen, bedeutet ihm still zu sein. Vorsichtig dreht sie den rostigen Schlüssel im Schloss. Es gibt nur ein sehr leises Knarren von sich. Fast geräuschlos huscht sie aus der Hütte, schließt sacht die schwere Tür hinter sich.
Fahles Dämmerlicht empfängt sie. Der Frühnebel hat sich noch lange nicht verzogen, macht die Luft schwer und trotz der beißenden Kälte feucht. Die ersten Schritte sind noch zögerlich. Aber als Nina den bekannten Weg bergab erreicht hat, kämpft sie sich immer schneller durch den tiefen Schnee. Atemlos und mit dem Gefühl, auf der Flucht zu sein, erreicht sie bald die Absturzstelle. Im Hellen fragt sie sich jetzt, wie das bloß passieren konnte. Der Weg ist schmal, ja, aber er ist weiß Gott breit genug, um ihn als einzelne Person gefahrlos begehen zu können. Es hätte ihr einiges erspart, wären ihre Sinne durch Sturm und Schneetreiben im Moment des Absturzes nicht so verwirrt gewesen. Nun glaubt sie, völlig klar zu sehen.
Es hätte mir einiges erspart? Schon, ja! Aber dann hätte ich auch niemals diese wundervollen Stunden mit ihm erlebt. Andererseits wäre ich auch nie so gnadenlos unglücklich geworden, wie ich es jetzt bin!
Der Abgrund, der sich nun ganz harmlos vor ihren Augen auftut, ist im zunehmenden Licht vollkommen klar zu erkennen. Aber der Blick in die eigene Seele ist undeutlich, verschwommen und nur geprägt von einem schlechten Berater. Dem Berater „Angst“! Angst vor der eigenen Courage, Angst davor, das Herz zu verlieren, ohne ein anderes dafür geschenkt zu bekommen.
Muss eigentlich jede Rechnung immer aufgehen? Oh, Scheiße! Später …!
Für ein paar Augenblicke bleibt sie noch stehen, hängt ihren Gedanken nach, bis sie bemerkt, dass ihr um die schmale Felsnase herum ein Wanderer entgegenkommt. Er scheint schwer beladen zu sein mit seinem Rucksack, stapft konzentriert und mühsam bergauf, hält den Kopf unter der grauen Schiebermütze tief gesenkt.
So früh im Wald? Wer mag das denn sein?
Sie möchte jetzt niemandem begegnen, mit niemandem reden müssen. Sie ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Der Mann nimmt erst von ihr Notiz, als sie fast schon aufeinandergetroffen sind. Nina hat sich dicht an die steile Felswand gedrängt, um ihm, mit seiner offenbar schweren Last, Platz zum Vorbeigehen zu lassen. Sie wünscht ihm höflich einen Guten Morgen und findet seine Reaktion etwas erstaunlich. Der Mann zuckt richtig zusammen, als er sie bemerkt.
„So früh allein im Wald, junge Frau?“, fragt er sie mit einer seltsamen, atemlos schnarrenden Stimme und hebt den Kopf. Unter lichtgrauen buschigen Augenbrauen sehen sie forschend blutunterlaufen wässrig blaue Augen an.
Ein Säufer!
Nina erstarrt. Ein gewaltiger Schnauzbart thront unter der knolligen, rotgefrorenen Nase.
Nicht nur ein Säufer! Das ist der Wilderer! Herrgott, wäre ich doch bei Simon geblieben!
Ehe sie antworten kann, ändert sich der Ausdruck des kleinen Mannes. Er stiert an ihr vorbei, den Hang hinauf. Nina dreht sich um, folgt seiner Blickrichtung und sieht nur wenige Meter entfernt Simon stehen. Die Waffe im Anschlag, Ben mit gefletschten Zähnen neben sich. Ehe sie sich überhaupt über die Situation klar werden kann, hat der Wilderer sie von hinten gepackt. Er hält sie, den Arm unter ihre Kehle geschoben, vor sich wie einen Schutzschild.
„Waffe weg!“, schnarrt er dicht an Ninas Ohr.
Ihr wird übel. Die Mischung aus Tabakqualm, altem Schweiß und widerlichem, schlechtem Atem, gepaart mit dem Druck, den er auf ihren Hals ausübt, lässt ihr fast die Sinne schwinden. Sie sieht, wie Simon zögert.
„Waffe weg, sonst kannst du das Mädel hier gleich aus der Schlucht kratzen!“, hört sie ihn wieder.
Simon legt die Pistole in den Schnee, geht einen Schritt auf ihn zu.
„Stehen bleiben! Überleg dir gut, was du tust!“, schnarrt er wieder.
Ben kann sich nun nicht mehr beherrschen und macht einen wütenden Satz auf den kleinen Mann zu. Für den Bruchteil einer Sekunde ist er genügend abgelenkt, dass Nina ausholen und einen kräftigen Tritt auf seinem Schienbein platzieren kann. Die Last seines eigenen Rucksackes reißt ihn rückwärts, unter Schmerzgeschrei lässt er sie los. Nina rollt sich blitzschnell gegen die Steilwand. Ben steht dem Mann knurrend auf der Brust und Simon ist mit einem Hechtsprung bei ihm, dreht den Wilderer auf den Bauch,
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