Snow Angel
Simon, nun sehr beherrscht. „Und wenn ich in Ruhe meinen Kaffee getrunken habe, werden wir genau die alarmieren. Die werden ein Heidenvergnügen daran haben, dich endlich hopp zu nehmen.“
Nina reicht Simon seinen Kaffee. Für einen Moment scheint es dem Wilderer die Sprache verschlagen zu haben. Er lässt den Kopf hängen und ein Sabberfaden hängt ihm vom Mundwinkel bis auf die Brust herab. Ben sitzt in etwa einem Meter Entfernung vor ihm und fletscht ab und zu mit einem warnenden Knurren die Zähne. Er nimmt den Job als Wachhund, den er sich gerade ausgesucht hat, sehr ernst und gibt sich alle Mühe, furchteinflößend zu wirken.
Ganz dicht steht sie neben Simon, lehnt sich an die kleine Küchenzeile. Weit genug entfernt von dem festgebundenen Kerl, dass ihr sein ekelhafter Körpergeruch nicht mehr in die Nase steigen kann. Nina hat zwei Zigaretten angezündet, reicht Simon eine. Schweigend stehen sie da und rauchen. Die Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Nur einmal greift er ganz kurz nach ihrer Hand, drückt sie und Nina gibt ihm das einvernehmliche Zeichen zurück.
So weggetreten, wie es den Anschein hatte, ist der Gefesselte offenbar doch nicht gewesen, denn er hat diese kleine Geste bemerkt und lacht nun höhnisch. „Na, hast wohl Pech mit deinen Weibern, was Junge? Was hast du denn wieder getrieben, dass die Hübsche dir so früh morgens stiften geht? Dir haun gern die Fickstücke ab, was? Ist ja nicht das erste Mal!“
Simons Schlag trifft hart. Jammernd spuckt der Mann zwei Zähne aus dem blutenden Mund.
Nina ist es zu viel.
Zitternd hockt sie sich vor die Hütte, den Rücken an die Wand gelehnt, die Hände auf den Knien abgestützt. Tränen laufen über ihre Wangen, ihr ganzer Körper wird von einem Weinkrampf geschüttelt. Simon kommt heraus, versucht sie in die Arme zu nehmen. Sie wehrt sich, dreht sich von ihm weg. „Wärst du doch bloß nicht hinterhergekommen! Ich könnte längst zu Hause sein. Dann hätte ich wenigstens schöne Erinnerungen zum Schluss gehabt. Jetzt ist alles nur noch hässlich und gemein.“
Mit hängenden Schultern steht er ratlos hinter ihr. In der Hütte krakeelt der Wilderer wüste Beschimpfungen und scheußliche Verwünschungen. Simon reißt die Tür auf, brüllt hinein. „Wenn du jetzt nicht gleich dein dreckiges Maul hältst, hätte ich noch was für ausgetickte Eber im Kofferraum. Dann ist Ruhe! Kannst du glauben!“
Vorerst dringt kein Laut mehr aus dem Haus. Ein anderes Geräusch lässt Nina plötzlich aufhorchen. Es ist das durchdringende Kreischen einer Kettensäge. Nicht weit entfernt. „Woher kommt das?“, fragt sie zwischen zwei Schluchzern.
„Das muss unten am Weg sein.“
Die Szene, die sich wenig später abspielt, wäre eines effektvollen Auftrittes der US-Kavallerie mehr als würdig gewesen.
Mit reichlich Pferdestärken und ohrenbetäubendem Hupen schiebt sich ein schwarz glänzender Mercedes ML elegant durch den Tiefschnee bis vor das Haus. Gefolgt von einem rostigen dunkelgrünen Mitsubishi Pick-Up.
Langsam öffnet sich die Fahrertür des Daimlers und Nina hält die Luft an. Das erste, was sie aus ihrer gebückten Position an der Hauswand sehen kann, sind endlos lange Beine in sandfarbenem, bis weit über das Knie reichendem Veloursleder auf bemerkenswerten Plateaus. Der zweite Eindruck erinnert sie an eine Vogue-Winterausgabe. Im wollweißen Kaschmirmantel mit Oversize-Kragen, zum fransigen Bob geschnittenem blondem Haar und einem Make-up, das jeden Stylisten in Verzückung versetzt hätte, betritt Lizzy die Bühne.
Hat Nina etwa vermutet, dass sie schleunigst mit ihren hohen Absätzen einen Schwan auf dem glatten Untergrund machen würde, sieht sie sich nun klar getäuscht. Wie Steigeisen schlägt die cremeweiße Lichtgestalt ihre Heels in den Schnee, eilt auf Simon zu und Nina glaubt, ihren Ohren nicht mehr zu trauen. Das Gekreische der Kettensäge eben klang dagegen noch wirklich heimelig und durchaus melodisch.
„Simon, Liebster!“
Nina bleiben erst die Tränen weg, dann endgültig die Luft.
Nicht im Ernst! Bin ich hier im falschen Film? DAS ist seine Freundin? Jesus, was tue ich hier?
Schon hängt die Erscheinung ihm am Hals und Nina sucht einen Fluchtpunkt. Sie hat nicht den Eindruck, dass Lizzy ihre Anwesenheit überhaupt wahrgenommen hat, und legt keinen Wert darauf, das zu ändern. Wortreich erklärt die Titelblattbeauty gerade ihrem „liebsten Simon“, dass sie ohne ihn nicht leben
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