Snow Angel
keine Sorgen, Nina“, beteuert die Beamtin. „Ich darf doch 'Nina' zu Ihnen sagen?“, bemüht sie sich, etwas mehr Nähe herzustellen, und bekommt ein Nicken als Antwort. Die junge Frau tut ihr leid. Sie scheint in eine Geschichte hineingeraten zu sein, die sie erheblich überfordert. Ihr jämmerlicher Zustand weckt mütterliche Beschützerinstinkte. „Nina, blieben Sie hier sitzen. Ich organisiere schnell, dass Sie heimkommen.“
„Aber mein Auto steht unten auf dem Waldparkplatz. Das muss ich mitnehmen!“
„Lassen Sie mich nur machen“, antwortet sie und zwinkert Nina zu.
„Danke!“
Es ist ihr sehr recht, dass sie jetzt keine Entscheidungen treffen muss, nichts allein zu regeln hat.
Nach Hause! Nur noch nach Hause!
Der Förster und ein Beamter machen sich wenige Augenblicke später mit ihr auf den Weg hinunter zu ihrem Auto. Mit flatterigen Händen fischt sie ihren Schlüssel aus der Tasche, bleibt einfach im Polizeifahrzeug sitzen und sieht zu, wie die Männer ihren Golf aus dem Schnee schaufeln.
Hier hat alles begonnen! Mussten diese drei Tage wirklich sein? Kann nicht mal einer den Cache löschen? Zurück auf „Los“, Ski unterschnallen, loslaufen, bei Helligkeit wieder ankommen. Einfach eine schöne Runde drehen und wieder wegfahren. Mehr wollte ich doch gar nicht! So beschissen ist es mir noch nie gegangen!
Der Förster fährt ihren Wagen nach Hause. Nina sitzt im Fond des Polizeiautos und sieht die fünfzehn SMS an, die ihr Handy inzwischen gespeichert hat.
Zurück in der Zivilisation. Gott sei Dank!
Zwölf Nachrichten sind von ihrer besten Freundin Jenny, die sich Sorgen gemacht hat und genauso dringend um Rückruf bittet, wie ihre Eltern. Zuerst ruft sie Jenny an, fragt, ob sie so schnell wie möglich zu ihr nach Hause kommen kann. Dann wählt sie die Nummer ihrer Eltern. Der junge Polizist am Steuer sieht sie verwundert an, als sie mit klarer, vernünftig klingender Stimme ihrem Vater erzählt, wie wunderbar und total toll das Wochenende gewesen sei.
Vor ihrem Elternhaus angekommen, wartet die Freundin schon. Der hilfsbereite Förster parkt ihren Wagen, gibt Nina die Schlüssel zurück. „Kopf hoch, Mädchen! Wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht ist. Pass mal auf, ehe du heiratest, ist das alles längst vergessen.“
Ein bisschen linkisch findet Nina diesen uralten Spruch ja und kann ihm gerade so gar nicht glauben. Aber der Blick aus den freundlichen Augen hat doch etwas Tröstliches. Die Dankbarkeit, die sie für diesen kleinen Lichtblick empfindet, reicht aus, um dem alten Herrn kurz die Arme um die Schultern zu legen und ein „Dankeschön“ zu murmeln. Er nickt ihr zu, klopft ihr aufmunternd auf die Schulter.
Der Polizist erklärt ihr nur noch, dass sie in den nächsten Tagen eine Aufforderung bekommen wird, eine Aussage im Präsidium zu machen. Der Vorwurf des versuchten Mordes würde das Einschalten der Kripo nach sich ziehen, erklärt er. Nina reißt sich sehr zusammen, bemüht sich, einen sachlichen, unaufgeregten Eindruck zu machen. Anscheinend gelingt das ganz ordentlich.
Die Männer haben offenbar den Eindruck, dass Nina recht stabil ist.
Dass dem durchaus nicht so ist, erkennt Jenny sofort.
„Liebe Güte, Nina! Wie siehst du denn aus?“, begrüßt sie sie und schlägt die Hände vors Gesicht.
„Lass uns reingehen Jenny. Ich erzähle dir gleich alles.“
Die erste Maßnahme ist, die Heizung im Wohnzimmer richtig aufzudrehen. Noch immer schlottert Nina.
„Pass mal auf, Süße, ich mache uns einen heißen Kakao und du gehst erst mal unter die heiße Dusche. Bis du fertig bist, haben wir es hier drin schön kuschelig. Hast du Hunger?“
Dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hat, war Nina bisher überhaupt nicht aufgefallen. Sie nickt. „Appetit habe ich zwar keinen, aber ich glaube, es wäre sehr vernünftig, was zu essen. Vielleicht wird mir dann auch endlich warm. Genau genommen bin ich seit Sonnenaufgang eigentlich fast nur draußen gewesen.“
„Super! Ohne was im Bauch. Bei der Arschkälte. Tolle Wurst“, schimpft Jenny. „Los, ab ins Bad. Ich mache uns belegte Brote und ein paar Eier. Okay?“
„Gerne.“ Zu irgendwelcher Widerrede wäre Nina jetzt sowieso nicht fähig. Sie ist heilfroh, dass Jenny, die ein paar Jahre älter ist, das Zepter übernimmt. Irgendwie hat sie zurzeit sowieso ständig den Eindruck, derart von den Ereignissen überfordert zu sein, dass sie sich kaum selbstbestimmte Handlungen
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