Snow Crash
eine Höhe von rund zweieinhalb Metern â so hoch konnte das Avatar von Lagos greifen.
»Wie viele Hypercards sind hier drinnen?«
»Zehntausendvierhundertunddreiundsechzig«, sagt der Bibliothekar.
»Ich habe keine Zeit, sie alle anzusehen«, sagt Hiro. »Können Sie mir einen Ãberblick darüber verschaffen, woran Lagos gearbeitet hat?«
»Nun, ich kann die Titel aller Karten gegenlesen, wenn Sie möchten. Lagos hat sie in vier Hauptgruppen eingeteilt: Biblische Studien, Sumerische Studien, Neurolinguistische Studien und Infos über L. Bob Rife.«
»Ohne sosehr ins Detail zu gehen â worum ging es Lagos? Worauf wollte er hinaus?«
»Wie sehe ich aus, wie ein Psychologe?« fragt der Bibliothekar. »Ich kann solche Fragen nicht beantworten.«
»Ich will es noch mal versuchen. Was hat dieses gesammelte Material mit dem Thema Viren zu tun?«
»Es gibt weitverzweigte Zusammenhänge. Sie zusammenzufassen, würde Kreativität und Urteilskraft erfordern. Als mechanische Einheit besitze ich beides nicht.«
»Wie alt ist das Zeug da?« fragt Hiro und deutet auf die drei Artefakte.
»Der Tonumschlag ist sumerischen Ursprungs. Er stammt aus dem dritten Jahrtausend vor Christus und wurde in der Stadt Eridu im südlichen Irak ausgegraben. Die schwarze Stele oder der Obelisk ist der Kodex des Hammurabi, der etwa um 1750 vor Christi datiert. Bei dem baumähnlichen Gebilde handelt es sich um ein Totem des Jahwe-Kults aus Palästina. Man nennt es ein Aschera. Es entstand um 900 v. Chr.«
»Haben Sie dieses Ding Umschlag genannt?«
»Ja. In seinem Inneren ist eine kleinere Tontafel. So fertigten die Sumerer fälschungssichere Dokumente an.«
»Und diese Dinger stehen irgendwo in Museen, nehme ich an?«
»Das Aschera und der Kodex des Hammurabi stehen in Museen. Der Tonumschlag befindet sich im persönlichen Besitz von L. Bob Rife.«
»L. Bob Rife interessiert sich offensichtlich für solche Sachen.«
»Das von ihm gegründete Rife Bibel College besitzt die reichste archäologische Fakultät der Welt. Sie haben eine Ausgrabung in Eridu durchgeführt, das die Hochburg eines sumerischen Gottes namens Enki war.«
»In welchem Zusammenhang stehen diese Dinge alle?«
Der Bibliothekar zieht die Brauen hoch. »Pardon?«
»Nun, versuchen wir es mit dem Prozeà der Eliminierung. Wissen Sie, warum Lagos sumerische Schriften interessant fand, und nicht etwa, sagen wir, griechische oder ägyptische?«
»Ãgypten war eine Zivilisation des Steins. Sie gründeten ihre Kunst und Architektur auf Stein, damit sie ewig halten sollten. Aber auf Stein kann man nicht schreiben. Daher erfanden sie Papyrus und schrieben darauf. Aber Papyrus ist nicht haltbar. Obwohl ihre Kunst und ihre Architektur überdauert haben, sind ihre schriftlichen Aufzeichnungen â ihre Daten â weitgehend verschwunden.«
»Was ist mit den zahlreichen hieroglyphischen Inschriften?«
»StoÃstangenaufkleber, so hat Lagos sie immer genannt. Korrupte politische Reden. Sie hatten die unglückliche Neigung, in Inschriften ihre militärischen Siege zu feiern, bevor die Schlachten selbst überhaupt stattgefunden hatten.«
»Und bei den Sumerern ist das anders?«
»Die Sumerer hatten eine Zivilisation, die auf Ton basierte. Ihre Häuser bestanden daraus, und sie schrieben auch darauf. Ihre Statuen bestanden aus Gips, der sich in Wasser auflöste. Daher sind Häuser und Statuen seither unter dem Einfluà der Elemente verfallen. Aber die Tontafeln wurden entweder gebrannt oder in GefäÃen vergraben. Daher haben die Daten der Sumerer überlebt. Ãgypten hat ein Erbe von Kunst und Architektur hinterlassen; das Erbe der Sumerer sind ihre Megabyte.«
»Wie viele Megabyte?«
»So viele wie Archäologen ausgraben wollen. Die Sumerer haben auf alles geschrieben. Wenn sie ein Haus gebaut haben, haben sie ihre Schriftzeichen in jeden Lehmziegel geritzt. Wenn die Gebäude einstürzten, blieben die Steine erhalten, im Wüstensand verstreut. Im Koran sagen die Engel, die ausgeschickt wurden, um Sodom und Gomorrha zu zerstören: >Wir wurden zu einem bösen Volk geschickt, damit wir einen Hagel aus Lehmziegeln auf sie herniederregnen lassen, die dein Herr zur Vernichtung der Frevler gezeichnet hat.< Lagos fand das interessant â diese unterschiedslose Verbreitung von
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