So bitterkalt
Tiermacherin!«
Jan sieht sie an. »Von wem?«
»Von der Tiermacherin!«
Von dem Buch hat Jan noch nie gehört, aber Josefine geht geradewegs auf die zwei Bücherkisten zu, sucht sie durch und holt dann ein dünnes weiÃes Buch in der GröÃe einer Langspielplatte heraus. Und richtig: Jan liest den Titel, Die Tiermacherin .
»Gut, dann nehmen wir das.«
Das Buch sieht eigentlich aus wie alle anderen in der Bücherkiste, doch es steht kein Autor darauf, und unter dem Titel ist nur eine hauchzarte Illustration zu sehen â eine dünne Bleistiftzeichnung, die eine kleine Insel mit einem schmalen Leuchtturm zeigt. Sie scheint mit der Hand auf das Cover gezeichnet zu sein. Als Jan das Buch genauer betrachtet, sieht er, dass die Seiten aus einzelnen Blättern bestehen, die mit gewöhnlichem Klebestreifen aneinandergeklebt wurden.
Er blättert in dem Buch. Der Text steht jeweils auf den rechten Seiten. Die linken Blätter zieren BleistiftillustraÂtionen, aber so vage und zart, dass man sie kaum erkennen kann.
Jan wird neugierig â jetzt möchte er selbst von der »Tiermacherin« lesen.
»Alle zusammenkommen!«, ruft er. »Lesezeit!«
Die Kinder lassen sich zwischen den Kissen nieder. Jan setzt sich auf den Stuhl vor ihnen und hält das Buch hoch.
»Heute werden wir von einer Tiermacherin lesen.«
»Was ist das?«, fragt Matilda.
Jan sieht Josefine auffordernd an, doch die schweigt.
»Nun ... wir werden sehen.«
Er schlägt die erste Seite auf und beginnt zu lesen:
Es war einmal eine Tiermacherin, die hieà Maria Blanker. Maria war sehr einsam, denn sie war auf eine kleine Insel weit drauÃen im Meer gezogen. Auf der Insel stand ein Leuchtturm, der niemals leuchtete, und jetzt wohnte sie da, in einer Hütte aus Treibholz.
Im Leuchtturm wohnte offensichtlich auch jemand, denn am Briefkasten stand Herr ZYLIZYLON DER GROSSE. Jeden Abend hörte Maria, wie schwere Schritte im Leuchtturm widerhallten. Es war, als würde jemand mit groÃen FüÃen die Treppe hinauf- und hinuntertrampeln.
Maria wollte höflich sein und hatte, als sie auf die Insel gekommen war, am Leuchtturm geklopft, doch sie war ziemlich froh gewesen, als niemand geöffnet hatte.
Jan hält inne. Er hat das Gefühl, er würde den Namen Maria Blanker kennen. Doch woher nur?
Und das Wort Zylizylon klingt so medizinisch. Vielleicht ein Medikament?
Er betrachtet die Bleistiftzeichnung. Eine kleine Hütte mit einem groÃen Leuchtturm dahinter. Das Haus ist hellgrau, wie in der Sonne ausgeblichenes Treibholz, und der Leuchtturm ist dünn wie ein Streichholz.
»Weiter!«, ruft Josefine. Also fährt Jan fort:
Der Leuchtturm leuchtete nicht, weil die Schiffe ihn nicht mehr brauchten. Es waren nämlich im ganzen Meer Gleise verlegt worden, weshalb die Schiffe nie mehr vom Kurs abweichen konnten. Doch am Leuchtturm führte kein Gleis vorbei. Maria sah niemals irgendwelche Schiffe, und deshalb fühlte sie sich noch einsamer.
Auf der Insel gab es nicht einmal Tiere, und Maria hatte keine Lust mehr, welche zu machen.
Das nächste Bild zeigt das Innere des Hauses, einen kahlen Raum, in dem nur ein Stuhl und ein Tisch stehen. Dort sitzt eine magere Frau mit zerzaustem Haar und einem so breiten Mund, dass die herunterhängenden Mundwinkel wie schwarze Tannenzapfen in ihrem Gesicht stecken.
Stattdessen baute Maria hinter dem Haus Kartoffeln und MohrÂrüben an. Sie trank Taminal-Tee und suchte am Strand nach schönen Steinen. Obwohl sie sich so einsam fühlte, klopfte sie dennoch nie wieder an die Tür des Leuchtturms. Herrn Zylizylon wollte sie nicht begegnen, denn seine Schritte hallten jeden Tag immer schwerer und schwerer von der Treppe im Turm bis zu ihr herüber.
Die dritte Zeichnung zeigt, wie die Tiermacherin, eine dünne graue Gestalt, vor einer geschlossenen Eisentür im Leuchtturm steht. Sie ist so verwischt gezeichnet, dass man ihr Gesicht nicht deuten kann. Ist sie traurig oder vielleicht ängstlich?
Nachts träumte Maria von all den Tieren, die sie früher, als sie noch jung und glücklich war, immer gemacht hatte. Die Leute kamen gern, um ihr bei der Arbeit zuzuschauen, und sie beklatschten alle Tiere, die aus ihren Kleidern hervorkamen.
Doch die Tiere waren gröÃer und gröÃer und immer seltsamer geworden. Die Tiermacherin hatte sie nicht mehr im Griff gehabt, und am Ende
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