So bitterkalt
jetzt fliegen sie mit einer Wärmebildkamera über den Wald.«
Jan nickte. Er ging zum Fenster, wo ein Thermometer hing, es zeigte an diesem Abend neun Grad plus. Eine Herbsttemperatur â es war nicht eiskalt drauÃen, aber auch nicht warm.
Er hatte dabeigestanden, als Nina zu einem Beamten gegangen war und ihn leise über die Strategie der Polizei befragt hatte, doch sie hatte nur ausweichende Antworten erhalten.
»Wir werden natürlich im See suchen, aber das können wir erst morgen, wenn es wieder hell ist«, hatte der Polizist flüsternd geantwortet.
Alle Mitarbeiter der Tagesstätte, bis auf zwei, waren an diesem Abend in den »Luchs« geeilt. Man hatte weiÃe Kerzen auf den Tischen und in den Fenstern verteilt, was den Räumen eine kirchliche Atmosphäre verlieh.
Bald verschwand das Helikoptergeräusch über ihnen.
Jan wandte sich zu seiner Chefin um. »Ich muss nach Hause gehen und versuchen, ein bisschen zu schlafen. Morgen früh bin ich wieder hier. Ich habe frei, aber ich komme trotzdem.«
Nina nickte.
»Ich werde auch bald gehen«, erwiderte sie. »Heute Abend können wir nichts mehr ausrichten.«
Seit sie in die Tagesstätte gekommen war, hatte Nina nicht ein einziges vorwurfsvolles Wort zu ihm gesagt. Im Gegenteil, sie unterstützte Jan und gab ihrer Kollegin Sigrid die Schuld, die im »Braunbär« einer anderen VorÂgesetzten unterstand.
»Sie hätte den Ãberblick behalten müssen.«
Jan schüttelte den Kopf. Als er Sigrid das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie auf einem Sofa im Kissenzimmer des »Braunbären« gelegen. Man hatte ihr irgendein Beruhigungsmittel gegeben.
»Keiner von uns beiden hatte heute den Ãberblick«, gab Jan zu, und zog seine Jacke an. »Es war ein ziemliches Durcheinander. Wir hatten zu viele Kinder dabei.«
Nina seufzte. »Ich glaube, irgendwer hat ihn im Wald gefunden«, sagte sie leise. »Jemand hat ihn mit nach Hause genommen. Sicher liegt William jetzt in einem warmen Bett und schläft, und morgen früh ruft derjenige bei der Polizei an.«
»Bestimmt«, bekräftigte Jan und knöpfte seine Jacke zu. »Bis bald.«
Er warf Nina einen letzten Blick zu und verlieà die Tagesstätte.
Als Jan in die Dunkelheit hinauskam, fühlte es sich kälter an als neun Grad, aber das war sicher Einbildung. Noch war es nicht Winter. Eine warm angezogene Person konnte nicht erfrieren, nicht einmal wenn sie unter freiem Himmel läge. Vor dem Wind geschützt, zum Beispiel hinter einer Betonwand, konnte so jemand viele Tage überleben.
Jan ging los.
Als er an den hell erleuchteten Fenstern des »Braunbär« vorbeiging, konnte er die Mitarbeiter sehen, die dort wachten, und auch Williams Eltern waren da. Jan sah die Mutter mit einer Tasse Kaffee vor sich am Tisch zusammengesunken dasitzen. Sie sah gequält aus.
Am liebsten hätte er sie noch eine Weile betrachtet, aber er ging weiter.
Am Waldrand blieb er stehen und lauschte â nur das Rauschen des Windes war zu hören, der Helikopter schien verschwunden zu sein. Natürlich konnten sie später noch einmal mit ihrer Wärmekamera zurückkommen, doch das Risiko musste er eingehen.
Jan sah sich ein letztes Mal um, und dann stieg er über den kleinen Graben neben dem Weg und ging in den Wald.
Er lief den Pfad hinauf.
William war jetzt mehr als vier Stunden im Bunker allein und eingesperrt. Aber er hatte warme Decken, etwas zu trinken und zu essen und Spielsachen, es war also kein Problem für ihn. Und Jan würde bald da sein.
31
Mit jedem Herbstabend erscheint Jan die Fassade von Sankt Patricia noch dunkler und kälter. Als er an diesem Abend mit dem Fahrrad an der Mauer entlangfährt, thront das Krankenhaus dahinter wie eine groÃe schwarze Burg. In vielen Fenstern ist ein bleiches Licht zu sehen, das jedoch nicht freundlich wirkt. In den Zimmern scheinen sich Schatten zu bewegen, die sehnsüchtig hinter den Gittern Ausschau halten.
Steht da oben ein Fenster offen?
Hört man nachts Gitarrenmusik?
Nein. Das bildet er sich nur ein.
Schnell fährt Jan am Krankenhausgelände vorbei zur Vorschule, weg von der Mauer. Es ist Sonntag und nur noch zwei Monate bis Weihnachten. Er hat dieses Wochenende frei, ist aber trotzdem gekommen, weil Hanna und er sich vier Tage zuvor mit dem Versprechen getrennt haben, einander zu helfen. Oder zumindest den
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