So bitterkalt
gewöhnliches Kuvert, ohne Absender, doch sehr nachlässig zugeklebt.
Er holt ein Messer und testet die Lasche â der Klebestreifen gibt nach, und der Brief lässt sich öffnen.
Briefgeheimnis. Das Wort ist Jan unbehaglich, aber er zieht dennoch vorsichtig den Inhalt aus dem Umschlag heraus. Es sind mehrere dünne Blatt Papier, die mit sauberer Tintenschrift bedeckt sind:
Mein liebster Ivan,
Ivan, hier ist noch einmal Carin. Carin aus Hedemora, falls Du Dich erinnerst. Mir ist eingefallen, dass ich in meinem vorigen Brief vergessen habe, Dir von meinen beiden Hunden zu erzählen. Ich habe zwei Stück, einen Dackel & einen Terrier . Sie heiÃen Sammy und Willy & sie kommen wunderbar miteinander aus & und ich komme gut mit ihnen aus. Es ist einfach herrlich, wenn wir alle zusammen an die frische Luft gehen.
Es ist so verlockend für mich, mich einfach davonzuträumen, denn ich bin oft so gestresst, weil es im Leben so viel zu tun gibt. So viel Verantwortung ! Da sind immer massenhaft Rechnungen, und auÃerdem habe ich ja noch meinen Job, den ich erledigen muss , wo ich keinen einzigen Tag mehr fehlen kann. Und Sammy und Willy müssen natürlich auch jeden Tag ausgeführt, gefüttert und versorgt werden.
Aber ich denke so viel an Dich, Ivan. Ich schicke Dir all meine Liebe. Die Wärme meiner Seele steigt wie ein leuchtendes Feuer direkt über den Himmel und kommt in Deinem Zimmer wieder herunter und in Dein Herz hinein. Ich empfinde so viel Liebe und Zärtlichkeit für Dich, und ich habe alles über Dich gelesen.
Ich weiÃ, dass wir alle, die wir auÃerhalb einer Gefängnismauer leben, ebenso vom Leben eingeschlossen sein können wie ihr, die ihr dahinter eingesperrt seid, und ich habe viel darüber nachgedacht, dass man über alle Mauern klettern sollte, mit denen wir uns umgeben. Aber Du machst mich frei , und ich sehne mich danach, Dich zu treffen ...
In diesem Stil geht der Brief noch drei Seiten weiter, mit langen Liebeserklärungen an Ivan Rössel und der Träumerei von einem gemeinsamen Leben. Auch ein Foto liegt dabei, darauf ist eine lächelnde Frau zwischen zwei bellenden Hunden zu sehen.
Jan faltet die Papiere zusammen und steckt sie vorsichtig wieder in den Umschlag. Dann nimmt er einen Klebestift und verschlieÃt ihn wieder. Er macht keine weiteren Briefe auf.
Ein Liebesbrief an Ivan Rössel. So klang er zumindest. Jan hat schon gelesen, dass unbekannte Gewalttäter, die im Gefängnis landen, oft Post von Bewunderern bekommen â stapelweise Briefe von Menschen, die sie niemals kennengelernt haben. Briefe von Frauen, die ihnen helfen wollen, bessere Menschen zu werden. Geht es all diesen Verfassern der Briefe hier auch darum, Rössel zu helfen?
Jetzt muss er an Rami denken und an den Brief, den er an sie begonnen hat. Aber seine Liebe ist anders. Völlig anders.
Das Eichhörnchen will über den Zaun klettern, hat sie geschrieben. Das Eichhörnchen will aus dem Rad heraus.
Das war vor fast zwei Wochen, und er hat seither nicht geantwortet. Und er hat sich vorgenommen, keine Briefe mehr zu schmuggeln.
Trotzdem holt er ein Blatt Papier. Sollte Rami unter dem Namen Blanker in der Klinik sein, und sollte er eventuell einen Brief an sie schreiben, wie würde der denn aussehen? Er will nicht wie irgendein liebeskranker Fremder wirken wie diese Carin aus Hedemora.
Jan will erzählen, wer er ist. Also nimmt er den Stift und beginnt zu schreiben:
Hallo, ich heiÃe Jan, und ich glaube, dass wir beide uns vor langer Zeit in einer anderen Stadt kennengelernt haben, und zwar in » der Klapse « . Du hast damals Alice geheiÃen, das weià ich noch, aber Du mochtest den Namen nicht mehr. Du hast Gitarre gespielt und ich Schlagzeug, und wir haben viel geredet. Ich habe gern mit Dir geredet.
Und jetzt sitzt Du also im Krankenhaus Sankt Patricia. Ich weià nicht, warum, aber das ist auch nicht wichtig für mich. Das Entscheidende ist, dass ich Dir helfen will.
Ich habe schon etwas getan, und zwar habe ich in den Büchern, von denen ich glaube, dass Du sie in die Vorschule geschmuggelt hast, die Illustrationen koloriert und verfeinert, aber ich will mehr tun. Viel mehr.
Ich will für uns beide einen Weg ins Leben finden und Dir helfen ...
Jan hält mit dem Stift in der Hand inne und betrachtet den letzten Satz â ... abzuhauen , das ist es ja wohl, was er schreiben
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