So fühlt sich Leben an (German Edition)
ich um die Ecke vom Eiscafé biege, sehe ich vier Glatzen auf einem Typen hängen und ihn zurichten.
So was mag ich gar nicht. Der eine hämmert ihm ins Gesicht, der andere tritt ihm in den Bauch, und der Typ am Boden rührt sich kaum mehr. Ich kenne ihn nicht. Ich sehe nur, dass er Oberarme wie Oberschenkel hat, weil er seinen Kopf damit zu schützen versucht. Ich schleiche mich an. Scheiße, denke ich, den Schlagring hast du verloren, und unbewaffnet dazwischen gehen ist Leichtsinn. Aber es liegt genug rum. Der Boden ist mit Schlagstöcken und Baseballkeulen übersät, der ganze Platz ist mittlerweile ein Arsenal herrenloser Waffen, da hat man freie Auswahl, und ich lese einen Totschläger auf, einen Teleskopschläger aus Metall mit einer Kugel an der Spitze– den habe ich schon in den Nacken gekriegt und weiß daher, wie er wirkt. Womöglich aus alten NVA -Beständen.
Egal. Ich schleiche mich also an, suche mir den eifrigsten Schläger aus– wenn du den umklatschst, der am meisten austeilt, rennen die anderen, sage ich mir…–, ziele auf den Kopf und haue ihm das Ding um die Ohren. Der schreit, taumelt, geht fünf Meter weiter in die Hocke und blutet. Zwei ergreifen die Flucht. Den vierten treffe ich am Arm, da ist er auch bedient. Dann kümmere ich mich um den Mann am Boden. Ziehe ihn mit Müh und Not bis zu einem Drahtzaun und lege ihn da ab. Er spuckt Blut. Sein Gesicht ist komplett blutbeschmiert. Er pumpt wie wild.
» Hey«, sage ich, » alles klar?«
» Ja. Geht schon.«
» Komm, wir räumen das Feld. Ich weiß ein Versteck, wo wir uns einen Moment ausruhen können.«
Ich helfe ihm auf die Beine, wir gehen um die Ecke und lassen uns zwischen Mülltonnen nieder.
» Wer bist du?«, frage ich.
» Gillert«, sagt er. » Sven Gillert aus Hellersdorf.«
Er nimmt seinen Pullover und wischt sich das Blut aus dem Gesicht, das aber weiter läuft, weil er überall Schnitte hat.
» Haste ’ne Kippe?«
Hoffentlich kommt jetzt keiner von denen um die Ecke, denke ich und zünde ihm eine an. Wir rauchen.
» Wir müssen da nicht mehr rein«, sage ich. » Auf dir haben vier Typen rumgehangen. Wir können zu mir gehen.«
» Nee«, keucht er. » Kommt nicht infrage. Lass uns nur kurz ausruhen.«
Der ist wahnsinnig, denke ich. Sieht allerdings auch wie ein Berserker aus. Diese Arme, dazu ein Nacken wie ein Stier, fast kein Hals, so was habe ich noch nicht gesehen. Jeder andere in seiner Verfassung hätte gesagt: Danke, das war’s. Und er will in diesen Hexenkessel zurück.
» Lass uns aufrauchen, dann gehen wir wieder rein«, sagt er und, nach einem weiteren Zug an der Zigarette: » Danke.«
Und wir wieder rein, Gillert die ganze Zeit an meiner Seite. Sieht nicht nur so aus, prügelt auch um sich wie ein Berserker, der Kerl.
Im Endeffekt haben wir diese Nazi-Meute zerschlagen. Irgendwann tauchten doch wirklich die Bullen auf, aber da war die Sache bereits durchgestanden und gegessen. » Komm, gehen wir«, habe ich zu Gillert gesagt und dann lange mit ihm bei mir auf der Bude gequatscht. Und festgestellt, dass ich ihn kannte. Dass wir als Kinder schon gemeinsam unterwegs gewesen waren. » Ah, jetzt weiß ich, damals, genau… Und warst du nicht dabei, als Ali seinem Pitbull die Ohren mit dem Teppichmesser kupiert hat?« Ja, war er. Es waren ja nicht nur von mir, es waren auch von ihm ein paar Legenden im Umlauf.
So haben wir uns kennengelernt. Näher kennengelernt. Das war der Beginn meiner Freundschaft mit Sven. So wichtig wie heute waren wir vorläufig nicht füreinander, aber wir hielten seither Kontakt, und einer verfolgte den Werdegang des anderen. So fing es jedenfalls an mit uns beiden, mit mir und Sven, auch Gillert der Pumper genannt…
Übrigens finde ich es im Nachhinein erstaunlich, dass auf dem Helene-Weigel-Platz keinerlei tödliche Waffen im Spiel waren. Weder Messer noch Schusswaffen. Offenbar stand der Faustkampf damals noch hoch im Kurs. Gut, es wurde alles Mögliche an Werkzeug eingesetzt, aber es blieb beim Schlagen, keiner kam auf die Idee, ein Messer zu ziehen. Wir hatten auch gar keine Angst davor, weil wir uns irgendwie darauf verlassen haben. Selbst die Nazis haben sich also seinerzeit an die ungeschriebenen Regeln gehalten. Bei aller Brutalität gab es eine Art Ehrenkodex, der auch für Glatzen galt. Aus heutiger Sicht geht diese Prügelei als nahezu faire Angelegenheit durch, so merkwürdig das klingt, denn heute musst du jederzeit damit rechnen, abgestochen oder erschossen zu
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