So fühlt sich Leben an (German Edition)
Tür um die Ohren zu schlagen, aber auch, weil es an den Berliner Türen allgemein immer ungemütlicher wurde– ich hatte mir sogar einen Stichschutz zulegen müssen, die Light-Version einer kugelsicheren Weste. Meine Musikproduktionen brachten andererseits nicht genug ein, um davon leben zu können; ich komponierte und produzierte weiter, wartete jedoch nach wie vor auf den großen Durchbruch.
Jetzt arbeitete Marek bei einem Tiefkühl-Lieferservice und verdiente nicht schlecht. Ich überlegte. In den Sommermonaten müsste ich ranklotzen und Kilometer machen, in den Wintermonaten hätte ich frei, der Job würde sich also mit meinen Aktivitäten im Hansa vereinbaren lassen, und im Notfall könnte ich jederzeit ein paar Schichten an der Tür einlegen. » Kannst du nicht mal fragen, ob die bei euch jemanden brauchen?«, fragte ich Marek. Der kümmerte sich gleich darum, und da sein Vater ein hohes Tier im Tiefkühllager war, wurde mir ratzfatz ein Job angeboten.
Eine Woche später war ich Fahrer eines 7,5-Tonners mit einem Kühlkasten hinten drauf und belieferte die Berliner Gastronomie mit Eis und Torten und anderen Leckereien. Ein genialer Job. Morgens um acht fuhrst du los, nachmittags gegen vier hättest du fertig sein sollen, warst du jedoch nie, in der Hochsaison kamst du locker auf deine siebzehn Stunden, hattest am Ende des Monats aber auch rund viertausend Mark in der Tasche, Zuschläge inklusive, und das war für eine legale Aktivität gutes Geld. Ich fuchste mich in die Kundenlisten und die Streckenplanung rein, stellte mir morgens meine Routen selbst zusammen, kreuzte dann den ganzen Tag lang gut gelaunt durch Berlin von einem Restaurant zum anderen, legte bald Bestzeiten im Belieferungsmarathon hin und fand zwischendurch im Stau sogar noch Zeit, Texte zu schreiben. Mit anderen Worten: eitel Sonnenschein an allen Fronten. Wir lebten gut, wir konnten uns was leisten, und ich war mit meinem neuen Dasein hochzufrieden. Allerdings zog es mich bald wieder an die Tür. Die altbekannten Kollegen, der beflügelnde Kontakt zum Milieu, das rauere Klima auf diesen Ausflügen ans Ende der Nacht– ich hatte Sehnsucht danach und verdiente mir, während der Wintermonate vor allem, in Gronkes Diensten was dazu.
So ging es zwei Jahre. In dieser Zeit sind wir ein weiteres Mal umgezogen, weil sich uns plötzlich die Möglichkeit einer Familienzusammenführung eröffnete.
Allerdings waren Kuje und Muttern nicht davon betroffen. Ich muss zugeben, dass meine Beziehung zu meinen Eltern in diesen Tagen etwas abgekühlt war, sie hatte fast die Temperatur der Waren erreicht, die ich für meinen neuen Arbeitgeber auslieferte. Umso häufiger hing ich mit meinen Schwiegereltern zusammen, und eines Tages tauchte beim Abendbrot die Frage auf: » Wollen wir nicht zusammenziehen?« Katrins Firma baute nämlich gerade ein Haus, in dem zwei Maisonette-Wohnungen vorgesehen waren. Wenn wir die nehmen würden, hätten wir mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Katrin müsste zur Arbeit nur die Treppe runtergehen, was auch im Hinblick auf den geplanten Nachwuchs sinnvoll wäre, und die kleine Großfamilie käme in den Genuss, Tür an Tür zu leben. Der Entschluss fiel uns leicht, und wenige Monate später wohnten wir wieder in Marzahn, im Kiebitzgrund, jede Partei auf hundertzehn Quadratmetern.
Und dann, nach der Saison 2003, war Schluss bei der Tiefkühlfirma. Ich hatte hart gearbeitet, hatte mich, wenn es sein musste, achtzehn Stunden am Tag durch den Berliner Verkehr gewühlt und kam auf gut und gern dreihundert Überstunden, die jedoch nicht ausgezahlt wurden. Bei Anbruch der Wintersaison Ende September fuhr ich zum Arbeitsamt, um mich arbeitslos zu melden, da schaute die Dame in ihre Papiere und sagte: » Herr Scholl, es fehlt ein Tag. Ein Arbeitstag. Wenn Sie Anspruch auf den vollen Satz erheben, müssen Sie diesen Tag noch nachweisen.« Nichts leichter als das, denke ich, fahre in die Firma und erkläre meinem Chef die Sachlage– » Das kann doch nicht sein. Ich war doch jeden Tag da.«
Mein Chef checkt seine Listen und sagt: » Stimmt, hier fehlt ein Tag.«
» Hey Chef«, sage ich, » das dürfte kein Problem sein. Ich habe um die dreihundert Überstunden. Schreibst du einfach einen Tag dazu und sagst, es war ein Versehen meinerseits.«
Da kiekt er mich an und sagt: » Nee.«
Mein Chef. Der Mann, der mich unterwegs anzurufen pflegte– » Stolli, kannst du noch mal kurz drehen (ich war schon fast in der Firma) und
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