So gut wie tot
junge Kollege nickte.
»Auf den Spuren einer toten Frau«, sagte Norman Potting.
Grace ahnte, dass sie auch auf den Spuren eines toten Mannes wandelten.
79
OKTOBER 2007 Nach der Besprechung begab sich Roy Grace sofort in sein Büro und rief Cleo an. Er werde später kommen, weil er noch Arbeit erledigen, nach Hause fahren und eine Reisetasche packen müsse.
Er war bereits mehrfach in New York gewesen, meist beruflich. Mit Sandy war er zum Weihnachtsshopping an ihrem fünften Hochzeitstag hingeflogen, und er freute sich immer wieder auf die Stadt. Auch war es schön, die befreundeten Kollegen Dennis Baker und Pat Lynch wiederzusehen.
Sie hatten einander kennengelernt, als eine Mordermittlung Grace, damals noch Detective Inspector, vor sechs Jahren nach New York geführt hatte. Dennis und Pat arbeiteten damals in der Polizeiwache Brooklyn und waren am 11. September schon früh an der Anschlagstelle gewesen. Vermutlich war niemand in ganz New York besser geeignet, um herauszufinden, ob Ronnie Wilson an jenem furchtbaren Tag tatsächlich gestorben war.
Cleo war lieb und freundlich, er solle einfach kommen, sobald er Zeit habe. Außerdem versicherte sie, eine supersexy Belohnung erwarte ihn. Er wusste aus Erfahrung, wie gut diese Belohnungen waren und dass sie die Reinigungskosten nach Humphreys schwallartigem Erbrechen durchaus wettmachten.
Er konzentrierte sich auf seine E-Mails, beantwortete die dringendsten und beschloss, den Rest im Flugzeug zu erledigen.
Als er sich gerade um den Papierkram kümmern wollte, klopfte es, und Cassian Pewe trat unaufgefordert ein. Er blieb vor dem Schreibtisch stehen, das Jackett lässig über der Schulter, den obersten Hemdknopf geöffnet und die teuer aussehende Krawatte auf Halbmast. Er sah aus, als habe er Schmerzen.
»Verzeihung, Roy, wenn ich so hereinplatze, aber ich bin ziemlich gekränkt.«
Grace hob die Hand, weil er sein Memo zu Ende lesen wollte, und blickte dann auf. »Gekränkt? Das tut mir leid. Warum denn?«
»Wie ich höre, schicken Sie DS Potting und DC Nicholas morgen nach Melbourne. Ist das richtig?«
»Ja, in der Tat.«
Pewe tippte sich auf die Brust. »Und was ist mit mir? Ich habe die Sache ins Rollen gebracht. Dann stünde es mir doch zu, dorthin zu fliegen.«
»Was soll das heißen, Sie hätten die Sache ins Rollen gebracht? Ich dachte, Sie hätten lediglich einen Anruf von Interpol entgegengenommen.«
»Roy«, sagte Pewe mit bittendem Ton, als wäre Grace sein bester Freund auf Erden, »dank meiner Initiative konnte alles so schnell in Gang kommen.«
Grace nickte gereizt, weil er sich ungern bei der Arbeit unterbrechen ließ, schon gar nicht von dieser Nervensäge. »Das weiß ich durchaus zu schätzen. Aber Sie müssen begreifen, dass wir hier in Sussex großen Wert auf Teamwork legen, Cassian. Sie sind für die ungelösten Fälle zuständig – ich führe eine aktuelle Ermittlung. Die Informationen, die Sie mir gegeben haben, könnten durchaus hilfreich sein, und ich habe Ihr rasches Handeln wohlwollend zur Kenntnis genommen.«
Und jetzt verpiss dich und lass mich in Ruhe arbeiten, fügte er im Geiste hinzu.
»Das weiß ich zu schätzen. Allerdings bin ich der Meinung, dass ich auch zum Team gehören sollte, das nach Australien fliegt.«
»Ihr Einsatz hier ist sinnvoller«, entgegnete Grace. »Und dabei bleibe ich.«
Pewe funkelte ihn an und knurrte beleidigt: »Das werden Sie vielleicht noch bereuen, Roy.«
Mit diesen Worten stürmte er aus dem Büro.
80
OKTOBER 2007 Dienstagabend, acht Uhr. Ricky saß in der Dunkelheit im Lieferwagen. Von seiner Position aus konnte er den Eingang des Hauses beobachten, in dem Abbys Mutter wohnte, und auch den hinteren Eingang, aus dem sie sich vielleicht hinausschleichen würde.
Die Kälte drang ihm in die Knochen. Er wollte einfach zurückhaben, was ihm gehörte, er wollte Abby loswerden und aus diesem gottverdammten feuchtkalten Land verschwinden. Ab in den Süden.
In den vergangenen drei Stunden hatte er kaum eine Menschenseele auf der Straße gesehen. Eastbourne galt als Rentnerstadt, in der das Durchschnittsalter tot oder scheintot war. An diesem Abend schien niemand mehr am Leben zu sein. Die Straßenlaternen beleuchteten verlassene Gehwege. Verdammte Verschwendung, dachte er bei sich. Die sollten mal an die Umwelt denken.
Abby war dort drinnen bei ihrer Mutter und hatte es schön warm. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie vermutlich die Nacht dort verbringen würde, doch er wagte nicht, seinen
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