So hoch wie der Himmel
aus.
»Wie sie war?« Ann sah ihre Tochter liebevoll an. »Solche Fragen hast du mir, als du klein warst, ständig gestellt. Und dann mochtest du nicht mehr, weil ich dir niemals antwortete. Was mein Fehler war.«
Sie wandte sich ab, trat an eins der hübschen Bogenfenster, durch die man auf die belebte Straße sah. Ihre Sünden, so erkannte sie, hießen Feigheit und Eigensucht. Wenn die Strafe dafür der Schmerz des Erinnerns war, dann ertrug sie sie ergeben.
»Bevor ich weiterspreche, möchte ich erklären, dass ich dir bisher deshalb nie geantwortet habe, weil ich es mir verbot, zurückzusehen.« Wehmütig wandte sie sich wieder ihrer Tochter zu. »Und ich es für wichtiger hielt, dich richtig zu erziehen, als deinen Kopf mit Gedanken an Menschen zu füllen, die es nicht mehr gab. In deinem Kopf schwirrten sowieso stets so viele Dinge durcheinander.«
Margo strich ihrer Mutter über die Hand. »Wie war sie?« wiederholte sie nochmals.
»Sie war eine gute Frau. Hat hart gearbeitet, ohne selbst jemals hart zu sein. Bei der Arbeit hat sie immer gesungen. Besonders liebte sie Blumen und hatte einen wunderbaren Garten hinter dem Haus. Wir sollten immer stolz auf unser Heim und auf uns selbst sein. Unfug ließ sie nicht durchgehen und teilte Schläge und Liebkosungen gleichermaßen aus. Wenn sie darauf wartete, dass mein Vater vom Fischen nach Hause kam, hatte sie so einen Gesichtsausdruck, den ich erst als erwachsene Person verstand.«
»Und mein Großvater? Was für ein Mensch war er?«
»Ein großer Mann mit einer dröhnenden Stimme. Er hat oft geflucht und wurde dann von meiner Mutter dafür geschimpft.« Anns Blick wanderte erneut in die Ferne. »Wenn er vom Meer kam, roch er nach Fisch und Wasser und Tabak und hat uns allerhand Begebenheiten aufgetischt. Er war ein wunderbarer Fabulierer, dein Großvater.«
Ann straffte die Schultern und wischte ein paar Krümel vom Tisch. »Ich habe dich nach meiner Mutter benannt. Mein Vater brüllte immer Margo, wenn er sie aufziehen wollte. Allerdings muß ich sagen, dass du weder ihr noch mir auch nur im geringsten ähnelst. Vielleicht um die Augen herum«, fuhr sie fort, während Margo reglos vor ihr saß. »Nicht die Farbe, aber die Form und der Starrsinn darin. Den hast du von mir. Aber die Farbe ist die deines Vaters. Er hatte Augen, in denen eine Frau ertrank. Und sie haben geleuchtet, lieber Gott, sie konnten derart leuchten, dass man regelrecht geblendet war.«
»Du hast ihn bisher nie erwähnt.«
»Es hat einfach zu weh getan.« Ann ließ ihre Hand sinken und setzte sich müde auf einen Stuhl. »Zuerst schmerzte es, also habe ich es nicht getan; und dann wurde es zur Gewohnheit, wodurch er dir doppelt fehlen musste. Es war falsch von mir, ihn nicht mit dir zu teilen, Margo. Ich habe ihn einfach für mich behalten«, sagte sie, wobei ihre Stimme zitterte. »Allein für mich.«
Margo rang ein wenig nach Luft. Sie hatte das Gefühl, als drücke ihr ein schweres Gewicht auf die Brust. »Ich dachte, du hättest ihn nicht geliebt.«
»Nicht geliebt?« Zuerst war Ann schockiert, doch dann brach sie in ein trauriges Lachen aus. »Mutter Gottes, Mädchen, ich hätte ihn nicht geliebt? Er war mein ein und alles. Jedesmal, wenn ich ihn nur angesehen habe, zappelte mein Herz wie einer der Fische, die er nach seiner Rückkehr vom Meer auf den Küchentisch warf. Und wenn er mich dann in die Arme nahm und durch die Luft wirbelte, war ich nicht davon, sondern allein von seinem Geruch ganz schwindelig. Ich rieche ihn immer noch: nasse Wolle und Fisch und Mann.«
Margo versuchte, sich vorzustellen, wie ihre Mutter, jung und lachend, heftig verliebt, von starken Armen herumgewirbelt wurde. »Ich dachte … na ja, du hättest ihn geheiratet, weil du es musstest.«
»Natürlich musste ich!« Ann riß die Augen auf. »Unbedingt. Andernfalls hätte mein Vater ihm sicher die Tracht Prügel seines Lebens verpaßt. Nicht, dass er es nicht versucht hätte, mein Johnny«, fügte sie lächelnd hinzu. »Schließlich war er ein ganzer Mann und hatte so seine Vorstellungen. Aber die hatte ich ebenfalls und daher empfing ich ihn als anständige, wenn auch begierige Jungfrau, als endlich die Hochzeitsnacht gekommen war.«
»Ich war also …« Margo griff nach ihrem Glas und nahm einen stärkenden Schluck, »… also nicht der Grund, weshalb er dich geheiratet hat?«
»Ich
war der Grund, weshalb er mich geheiratet hat«, sagte Ann mit unverhohlenem Stolz. »Und ich kann dir gar nicht
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