So kam der Mensch auf den Hund
erklären.
Jedes Tier, vor allem jeder größere Säuger,
flieht
vor einem überlegenen Gegner, sobald sich dieser über eine gewisse Entfernungsgrenze hinaus nähert. Die
Fluchtdistanz,
wie Prof. Hediger, ihr Erforscher, diese Verhaltensweise nennt, wächst in dem Grade, in welchem das Tier den betreffenden
Gegner fürchtet. Mit derselben Regelmäßigkeit und Voraussagbarkeit, mit der ein Tier bei Unterschreitung der Fluchtdistanz
flieht, stellt es sich aber zum Kampfe, wenn der Feind sich ihm auf eine ebenso bestimmte, viel kleinere Entfernung |98| nähert. Naturgemäß kommt eine solche Unterschreitung der
kritischen
Distanz (Hediger) nur in zwei Fällen vor: wenn der gefürchtete Feind das Tier überrascht, das heißt, von ihm erst bemerkt
wird, sobald er sich in nächster Nähe befindet, oder, wenn das Tier in einer Sackgasse steckt und daher nicht fliehen kann.
Ein Spezialfall der ersten Möglichkeit liegt vor, wenn ein großes wehrhaftes Tier den herankommenden Gegner zwar bemerkt,
aber nicht sofort mit Flucht reagiert, sondern sich versteckt, als hoffe es, der Feind gehe vorüber, ohne es zu bemerken.
Will es nun der Zufall, daß der Gegner unmittelbar auf ein Tier, das »sich drückt«, stößt, so sieht es sich häufig erst entdeckt,
wenn die kritische Distanz bereits unterschritten ist. In diesem Falle erfolgt sofort ein verzweifelter Angriff. Der zuletzt
beschriebene Mechanismus ist es, der die Suche nach angeschossenem Großwild, vor allem nach großen Raubtieren, so ungemein
gefährlich macht. Der Angriff, den die Überschreitung der kritischen Distanz auslöst, ist bei weitem der gefährlichste, dessen
das betreffende Wesen überhaupt fähig ist. Derlei Reaktionen gibt es aber nicht nur bei großen Raubtieren, sie sind beispielsweise
auch bei unserem heimischen Hamster stark ausgeprägt, und der wütende Angriff einer in eine ausweglose Enge getriebenen Ratte
ist im Englischen sogar sprichwörtlich für verbissenes Kämpfen geworden: Fighting like a cornered rat.
Die Effekte der Fluchtdistanz und der kritischen Distanz sind es nun, die man zur Erklärung des oben beschriebenen Verhaltens
des Hundes hinter der geschlossenen und der dann geöffneten Gartentüre in Betracht ziehen muß. Das trennende Gitter wirkt
nämlich wie eine dazwischenliegende Entfernung von vielen Metern: Der Hund fühlt sich vor dem Feinde sicher und ist dementsprechend
mutig. Anderseits wirkt das Öffnen der Türe, als hätte sich der Gegner plötzlich die nämliche Strecke auf das Tier zubewegt.
Besonders bei Tieren in zoologischen Gärten, die sehr lange hinter Gittern gesessen und daher von deren Undurchdringlichkeit
überzeugt sind, kann sich folgender gefährliche Effekt einstellen. |99| Mit dem Gitter zwischen sich und dem Menschen fühlt sich das Tier sicher, seine Fluchtdistanz ist nicht unterschritten, es
ist sogar fähig, mit dem Menschen, der vor den Stäben steht, einen freundlichen sozialen Kontakt aufzunehmen. Tritt nun der
Mensch, etwa im Vertrauen darauf, daß sich das Tier durch das Gitter ruhig hat streicheln lassen, unerwartet in den Käfig,
so kann es nicht nur geschehen, daß das Tier erschrocken flieht, sondern auch, daß es angreift, weil nach Wegfall des Gitters
sowohl die Fluchtdistanz als auch die bedeutend kleinere kritische Distanz unterschritten wurde. Dem Tiere wird dieses Verhalten
selbstverständlich als »Falschheit« angekreidet.
Der Kenntnis dieser Gesetzlichkeiten habe ich es zu danken, daß ich von einem zahmen Wolf nicht angegriffen wurde. Als ich
nämlich meine Hündin Stasi mit einem schönen und großen sibirischen Wolf verheiraten wollte, der im Königsberger zoologischen
Garten lebte, riet man mir dringend ab, da der Wolf als bösartig galt.
Ich brachte die beiden Tiere zunächst in benachbarte Käfige der Reserveabteilung des Gartens und öffnete die Verbindungstür
nur so weit, daß Stasi und der Wolf die Nasen hindurchstecken und einander beriechen konnten. Da beide nach der Zeremonie
des gegenseitigen Naseberiechens freundlich mit den Schwänzen wedelten, schob ich schon nach wenigen Minuten die Tür vollends
zurück, was ich nicht zu bereuen hatte, da sich die Tiere sofort und für immer reibungslos vertrugen. Als ich nun meine vertraute
Freundin Stasi mit dem gewaltigen Grauwolf spielen sah, kam mich der Ehrgeiz an, mich als Tierbändiger zu produzieren und
ebenfalls den Wolf im Käfig aufzusuchen. Da er mich durch das
Weitere Kostenlose Bücher