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So kam der Mensch auf den Hund

Titel: So kam der Mensch auf den Hund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Konrad Lorenz
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tu dem Kind ja weh!« Offensichtlich hatte jetzt die Brutpflegereaktion,
     das vom Schmerzensschrei ausgelöste »Mitleid«, die Oberhand. Senta machte eine deutliche Intentionsbewegung nach dem Kopf
     des Welpen, als wolle sie ihn nun ins Nest tragen. Da sie aber das Maul öffnete, um ihn zu packen, schlug ihr wiederum der
     böse fremde Duft entgegen. Das hastige Lecken begann aufs neue, steigerte sich wieder bis zum leisen Zwicken in die Bauchhaut,
     wieder kam der Schmerzensschrei des Kindes, prallte entsetzt die Hündin zurück. Sentas Bewegungen wurden immer hastiger und
     nervöser, immer rascher wechselten die einander widerstreitenden Triebe: der, das Kind einzutragen, und der, den unerwünschten,
     »falsch« riechenden Wechselbalg aufzufressen. Man sah deutlich, unter welchen Seelenqualen die arme Senta litt. Plötzlich
     brach sie unter der Last des inneren Konfliktes zusammen: Sie setzte sich vor dem Dingo auf die Keulen, streckte die Nase
     gegen den Himmel und heulte.
    Ich nahm daraufhin nicht nur den Dingo, sondern auch Sentas Kinder fort und tat sie alle zusammen in eine enge Kiste, die
     ich in die Küche an den Herd stellte. Dort ließ ich die Jungen zwölf Stunden lang durcheinanderkrabbeln und einander »parfümieren«.
     Als ich sie dann am nächsten Morgen der Hündin zurückbrachte, war sie wohl anfangs gegen alle Kinder etwas kritisch und benahm
     sich ziemlich aufgeregt, trug aber doch alsbald sämtliche programmgemäß in ihre Hütte, und zwar den Dingo mitten zwischen
     ihren eigenen Jungen, weder als ersten noch als letzten. Merkwürdigerweise hat sie aber später den Fremdling doch wieder als
     solchen erkannt. Sie verstieß ihn zwar nicht und säugte ihn wie die anderen, aber sie hat ihn einmal ernstlich ins Ohr gebissen,
     so daß eine Narbe entstand, die das Ohr für immer ein wenig schief zog.

|107| Schade, daß er nicht sprechen kann, er versteht jedes Wort
    Es ist ein Irrtum zu glauben, daß die Haustiere der Menschen dümmer seien als die Wildformen, von denen sie abstammen. Gewiß,
     ihre Sinne sind in vielen Fällen stumpfer geworden, manche feineren Instinkte sind abgebaut. Dies gilt aber auch für den Menschen:
     nicht
trotz
dieser Verluste, sondern gerade ihretwegen steht der Mensch über dem Tier. Der Abbau der Instinkte, der starren Gleise, in
     denen ein großer Teil tierischen Verhaltens verläuft, war die Voraussetzung für das Entstehen bestimmter, spezifisch menschlicher
     Freiheiten des Handelns. Auch beim Haustier bedingt der Zerfall etlicher angeborener Verhaltensweisen keine Verminderung der
     Fähigkeit zu einsichtigem Verhalten, sondern neue Grade der Freiheit. Darüber sagt schon 1898   C.   O.   Whitmann, der diese Dinge als erster gesehen und studiert hat: »Diese Fehler des Instinktes sind nicht Intelligenz, aber sie
     sind die offene Tür, durch die der große Erzieher ›Erfahrung‹ Eintritt erlangt und alle Wunder des Intellektes vollbringt!«
    Zu den instinktiven, artmäßig ererbten Verhaltensweisen gehören auch die
Ausdrucksbewegungen
und die von ihnen ausgelösten sozialen Reaktionen. Was gesellschaftlich lebende Tiere, Dohlen, Graugänse, auch hundeartige
     Raubtiere, einander »zu sagen haben«, bewegt sich ausschließlich auf der Ebene dieser gleich Zahnrädern ineinandergreifenden
     Aktions- und Reaktionsnormen, die den Tieren einer Art angeboren sind. R.   Schenkel hat in jüngster Zeit die Ausdrucksbewegungen und ihre Bedeutung beim Wolf gründlich untersucht und analysiert. Vergleicht
     man nun dieses »Vokabularium« der Signale, das dem Wolf zur sozialen Verständigung zur Verfügung steht, mit demjenigen unserer
     Haushunde, so findet man dieselben Erscheinungen der Desintegration und des Abbaues wie bei so vielen anderen angeborenen
     arteigenen |108| Verhaltensweisen. Ich will es dahingestellt sein lassen, ob die betreffenden Ausdrucksbewegungen nicht schon beim Goldschakal
     weniger deutlich und prägnant sind als beim Wolf, zumal bei diesem die gesellschaftliche Struktur zweifellos höher entwickelt
     ist. An lupusblütigen Hunden, etwa an Chows, findet man sämtliche Ausdrucksformen des wilden Wolfes, ausgenommen jene Signale,
     welche durch Bewegungen und Stellungen des Schwanzes ausgedrückt werden: Der Ringelschwanz des Chows ist zu solchen Bewegungen
     einfach mechanisch unfähig. Dennoch
vererbt
der Chow spezifisch wölfische Ausdrucksbewegungen des Schwanzes! Alle Tiere meiner Kreuzungszucht, welche von der

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