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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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sich seine Muskelstränge spannten.
    Sverre bemerkte ihr versonnenes Lächeln. »Wie ist das eigentlich, Dr. Valcourt?«
    »Was?«
    »Rotes Blut zu haben. Zu leben.«
    »Es ist eine zweischneidige Sache.«
    Der Kapitän zeigte auf die lange, schwarze Narbe an seinem Unterarm. »Dann ist es in jeder Beziehung besser als Annulliertsein.«
    Er setzte seinen Zylinder ab, pustete auf den Filz und sah ihn wehen. In seinem Innern schleppte sich eine Erinnerung heran wie ein im Sterben ermattetes Tier. Er klammerte sich an sie. Andeutungen von Sterblichkeit. Verwaschenes. Es hing irgendwie mit Liebe zusammen. Liebe zu einem Elternteil? Einem Kind? Die Eindrücke gewannen an Schärfe. Zu einer Frau. Christine? Nein, Kristin… Kristin wer? An ihren Nachnamen konnte er sich nicht erinnern. Kristin die schöne Seekadettin. Sie wäre ganz versessen auf Vergnügungsparks gewesen. Er sah sie auf einem Karussell. Kristin, die schöne, reizende Kristin, ritt ein Holzpferd, ritt darauf im Kreis, sang, lachte.
    Alles verflog…
    Er hob die Hand und streichelte mit langen, schmalen Fingern Mornings Wange. »Sie sind eine Frau tiefer Hingabe. Ich konnte es schon spüren, als ich Sie angeheuert habe.« Aus seinem rechten Auge rann eine Träne, aus dem linken ein Tropfen Gin. Er trat zurück. »Keine Bange, ich werde nicht von Ihnen verlangen, mit mir ins Bett zu gehen. Dafür ist mein Ehrgefühl zu ausgeprägt.«
    Und meine Potenz zu gering, dachte er.
    Der Suff hatte ihn soweit gebracht. Sein Periskop Nummer I fuhr nicht aus.
    »Sie müssen berücksichtigen, daß Paxton mein Patient ist«, sagte Morning, faßte die Griffstangen des Periskops fester. »Ich habe ihn geheilt. Da ist es doch verständlich, daß ich mir wünsche, er entwickelt gesunden Ehrgeiz.«
    Während er erbittert im Periskopraum auf- und abschritt, versuchte Sverre seinem Gehirn weitere Bilder Kristins zu entlocken, obwohl er um die Fruchtlosigkeit der Bemühung wußte; schließlich wandte er sich erneut an Morning. »Wo sind sie jetzt?« fragte er.
    »Auf einem Boot«, antwortete Morning. »Sie sammeln Tote ein. Der Hutmacher ist sauer. Er will in seiner Parade die gesamte Historie vertreten haben und sorgt sich, sie bleibt womöglich…«
    *
    »Unvollständig!« heulte der Hutmacher. »Ich scheue weiß Gott keinen Aufwand, aber die Leistungsfähigkeit eines einzelnen hat Grenzen.«
    Die Flüchtigen kauerten am Bug und besahen sich die Ausbeute der Nacht. Theophilus hatte sie zu Menschenfischern gemacht; dank Nachhilfe durch Georges muskelbepackte Arme hatten sie vier Leichen aus dem Fluß geborgen. Nässetröpfchen gleißten auf ihrem vom Salz wie gepökelten Fleisch. Grabraub war, vergegenwärtigte sich George, ob das geschändete Medium nun Erde war oder Wasser, ein schändliches, ruchloses Treiben, etwas Lästerliches selbst nach den Maßstäben der Unitarier.
    »Ohne jeden Zweifel ’n guter Fang«, sagte der Hutmacher, der Georges beklommenen Blick mißverstand. »Aber wir haben noch jede Menge zu tun.«
    Nach Theophilus’ Angaben hatten sie einen Ex-Patienten Sigmund Freuds, einen Gladiator, dessen höchst unterhaltsamer Tod ihn im Jahre 56 vor Christus ereilt hatte, einen von 1610 bis 1629 beim Amsterdamer Bankkontor beschäftigt gewesenen Sekretär sowie einen Wikinger geborgen.
    Ein reanimierter Galeerensklave stakte den Prahm mit einer Stange vorwärts. Dunkle Marmorgebäude glitten vorüber; Brücken schwebten über das Gefährt hinweg, finstere Wölbungen, die bei George Erinnerungen an seinen Geier weckten.
    »Ist Ihnen eigentlich klar, daß ich keinen einzigen Untertanen von Pharao Echnaton dabei habe? Nicht einen.« Schweißperlen rannen dem Hutmacher über die Stirn. »Und aus dem arabischen Kalifat und Abu Bakr? Niemanden. Vom Gupta-Hof im Indien des vierten Jahrhunderts? Null!« Er kam zum Bug gesprungen, packte Georges Hemd, verknüllte den Stoff in seinen Fäusten. »Und Opfer? Reden Sie mir bloß nicht von Opfern! In dieser Stadt herrscht starker Mangel an Opfern, das kann ich Ihnen sagen. Ja, die Ära Napoleon ist abgedeckt, der Trojanische Krieg auch, aber was ist mit der Jungtürken-Revolution von 1908? Den Opium-Kriegen zwischen 1839 und 1842? Und den Kreuzzügen, um Himmels willen?! Kommen Sie mir ja nicht mit den Kreuzzügen!«
    Der Hutmacher ergriff das Steuerruder und lenkte den Prahm auf einen Pier aus Beton zu. Das vom Mond beschienene Wasser spiegelte helle Sinuswellen auf die Treppe, die zur Straße hinaufführte, ihre Lichtmuster

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