So nah bei dir und doch so fern
Intensivstation eingelassen zu werden. Meine Mutter hasst Krankenhäuser, und mit all den anderen Besuchern in einem trostlosen Raum herumzusitzen und auf die Erlaubnis warten zu müssen, war die reinste Hölle für sie. Abhängig davon, wie beschäftigt das Personal war, konnte es Jahrhunderte dauern. Wenn es so weit war, stand meine Mutter vor dem Fenster, spähte in die düstere Welt des Todes und der künstlichen Beatmung, holte tief Luft und zählte bis zehn, bevor sie eintrat.
Später erzählte sie mir, diese Besuche seien das Schlimmste gewesen, was sie je hatte machen müssen. Ich lag dort und verfolgte mit den Augen, wie sie den Nachttisch aufräumte und die Lotions und Wässerchen hin- und herschob. Es war ihre Art, ihre Liebe zu zeigen, wenn ihr die Worte fehlten, was häufig der Fall war. In und auf dem Nachttisch stapelten sich alle möglichen unnützen Sachen, die ich nicht benötigte, wie Teebeutel, Zahnpasta oder saubere Baumwollschlafanzüge. Sobald das alles neu geordnet war, kümmerte sie sich um mich. Sie massierte meine verdrehten Füße und versuchte, sie in eine Lage zu bringen, die halbwegs normal wirkte. Jedes Mal, wenn sich unsere Blicke begegneten und ich ihren Blick lange genug festzuhalten versuchte, um ihr zu verstehen zu geben, dass ich lebte, ließ ich den Blick zur Tür wandern, wie um ihr zu sagen: »Bitte, Mama, nimm mich mit nach Hause.« Doch es war zwecklos. Sie lächelte und schaute weg. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie merkte, dass die Art, wie mein Blick ihr durch das Zimmer folgte, kein Zufall war.
Manchmal durchbrach Mutter die stumme Monotonie dieser Besuche, indem sie als Rückhalt ihren Mann Dave mitbrachte. Einige Jahre jünger als meine Mutter war Dave fast dreißig Jahre lang wie ein Ersatzvater für mich gewesen. Er hatte nie versucht, der neuen Familie seine Wertvorstellungen aufzudrücken, sondern gewann unser Vertrauen durch gegenseitigen Respekt. Seit meinem zehnten Lebensjahr war Dave eine feste Größe in meinem Leben, der kaputtes Spielzeug und ein gebrochenes Herz reparieren konnte, gute Ratschläge erteilte und mit Geld aushalf, wenn ich Bedarf hatte. Sobald ich ihn sah, wollte ich fragen: »Hallo, Dave, wie steht’s mit deinem Schuppen?«
Er verbrachte Stunden in seinem Zufluchtsort am hinteren Ende des Gartens. Mutter spottete oft, seinen Drechselwerkzeugen widme er mehr Aufmerksamkeit als ihr. Ich beobachtete, wie er sich meinem Kopf näherte, als wolle er mich küssen.
»Tut mir leid, Kate, aber das hier kann ich nicht in Ordnung bringen«, flüsterte er, seine Gefühle unterdrückend. Ich spürte meine Tränen wieder fließen, und Dave wischte sie fort, ohne eine Ahnung zu haben, dass ich alles verstand, was er sagte.
Während dieser ersten Tage auf der Intensivstation, als die Prognose äußerst düster war, klammerte sich meine Mutter an die Worte des irischen Facharztes, der erklärt hatte, die Nervenbahnen in meinem Gehirn, die meine sämtlichen Bewegungen kontrollierten, funktionierten nicht mehr. Er hatte gesagt, manchmal besitze das Gehirn die Fähigkeit, neue Nervenbahnen zu erschließen, und dies machte meiner Mutter Hoffnung. Sie starrte mich stundenlang an und wartete auf das leiseste Zucken oder Flackern einer Bewegung, das sie als den ersten positiven Schritt auf dem Genesungsweg des Gehirns betrachten konnte.
»Weißt du was, Kate?«, flüsterte sie in ihrem breiten Akzent – einer Mischung aus Wallisisch, Chester und einer Spur Liverpooler Dialekt –, wobei ihre Stimme vor Anspannung vibrierte. »Du warst doch immer eine Kämpfernatur. Falls es neue Bahnen in deinem Gehirn gibt, wirst du sie auch finden.« Danach massierte sie meine Füße mit teurer Chanel-Feuchtigkeitscreme. Ich lauschte ihrer beruhigenden Stimme und erinnerte mich an jene Zeiten, als sie weniger feinfühlig gewesen war.
»Das ist doch wohl nicht dein Ernst!«, schimpfte sie am Telefon, als ich sie anrief und ihr mitteilte, ich habe einen One-Way-Flug nach Bangkok gebucht. Es war März 1995, und meine Beziehung mit Mark hatte nach fünf Jahren einen bösen Knacks erlitten. Ein Mädchen, das ich für eine Freundin gehalten hatte, erwies sich als eifersüchtige Verführerin meines Auserkorenen. Als ich dahinterkam, dass sie eine Affäre gehabt hatten, war für mich klar, erst mal abhauen zu müssen. Ich bekam einen Brief von Diana, einer meiner ältesten Freundinnen aus der Katholischen Oberschule, und sie lud mich ein, bei ihr in Bangkok
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