So nah bei dir und doch so fern
allein schon mein Kampfgeist zurück in die Laufschuhe bringen würde. Darin bestärkte sie mich beständig. Außerdem gab es noch eine junge Ernährungsberaterin, deren Zusammenarbeit ich später allerdings aufkündigte, weil sie vehement darauf bestand, ich solle die Nahrung über die PEG in den Magen gelangen lassen, während ich normales Essen zu mir nehmen wollte.
Um mein emotionales Wohlbefinden sorgte sich Lynne, die Psychologin. Sie war eine freundliche Frau mittleren Alters, die überzeugt war, Meditation sei der richtige Weg. Lynne selbst saß im Rollstuhl, seit sie vor vielen Jahren bei einem Verkehrsunfall eine Querschnittslähmung davongetragen hatte. Zu Beginn meines Aufenthalts in der Reha-Abteilung bedeutete sie eine große Hilfe für mich, da sie als Vermittlerin für meine Mutter und Alison fungierte und deren Bedenken bezüglich meiner medizinischen Betreuung weitergab. Später jedoch wurde ihr Rollstuhl zur Barriere in unserer Beziehung. Ich wollte mir einfach nicht vorstellen, jemals lebenslang an einen Rollstuhl gefesselt zu sein, daher konnte ich meine Gefühle nicht offen mit ihr teilen.
Chef meines Therapeutenteams war mein Neurologe, der den Spitznamen »Ming, der Gnadenlose« trug, weil er an den Bösewicht aus Flash Gordon erinnerte. Was er sagte, war Gesetz, und da er immer das Gegenteil von dem sagte, was ich hören wollte, frustrierte er mich manchmal sehr. Er war es auch, der verkündete, ich würde niemals wieder gehen können, geschweige denn schlucken.
Der Liebste unter allen Mitarbeitern von Osborn 4 war mir Oliver, ein zweiundvierzigjähriger Vater von zwei Kindern, der eine Umschulung zum Krankenpfleger absolviert hatte, nachdem er vorher im Kundendienst tätig gewesen war. Für ihn sprach seine enorme Lebenserfahrung. Er war geistreich und musikbegeistert, und über die Monate hinweg tauschten wir viele zu unserem Leben und den Wendepunkten passende Musikstücke aus.
KAPITEL 15
Es fühlt sich an, als würd ich eine Wassermelone machen
D as Leben in der Rehabilitations-Abteilung war so, wie ich es mir in einem Internat vorstellte – mit lauter Vorschriften und Stundenplänen und keinerlei Spielraum für Individualität. Viele Patienten saßen in Rollstühlen, und jeden Tag wurden sie wie in einer Schulkantine zum Essen in den Speiseraum in der Mitte des Komplexes geschoben. Dort saßen sie dann so lange herum, bis ihre Therapeuten kamen und sie zu ihren Gymnastik- oder Sprechübungen abholten. Da ich meine Nahrung über die PEG erhielt, entging ich der täglichen Essensroutine, war aber wie alle anderen in mein eigenes Therapieprogramm eingespannt.
Zunächst zielte meine Physiotherapie darauf ab, die unerträglichen Schmerzen im Schulterbereich zu lindern, die bei Patienten mit Locked-in-Syndrom üblich sind, wie ich erfuhr. Meine Physiotherapeutin machte täglich Übungen mit mir, bei denen sie meinen Kopf von einer Seite zur anderen schaukelte, um die Nackenmuskulatur zu stärken.
Außerdem wurde ich Tag für Tag aus dem Bett gehoben und auf einen Stuhl gesetzt. Für Außenstehende muss das ein groteskes Schauspiel gewesen sein. Zwei Schwestern hievten mich so weit hoch, dass unter meinen Körper eine Schlinge geschoben werden konnte, die zu einer mechanischen Winde führte. Sobald der Apparat mich anhob, baumelte mein Körper in alle Richtungen: Der Kopf pendelte auf einer Seite herunter, die Gliedmaßen hingen, durch die Schwerkraft nach unten gezogen, leblos herab. Ich sah aus und fühlte mich wie eine verknäulte Marionette.
Wenn ich schließlich auf dem Stuhl saß, verkabelte man mich mit dem FES -Gerät (Funktionelle Elektrostimulation), das meine Extremitäten durch Schocks zum Zucken brachte. Anfangs konzentrierte sich meine Ergotherapie auf die rechte Seite, auf der sich die ersten Anzeichen einer Bewegung gezeigt hatten. An meiner Hand wurden Elektroden befestigt, und eine halbe Stunde lang pochte Strom durch meinen Körper, um eine Kontraktion der Muskeln zu stimulieren. Währenddessen starrte ich auf meinen Körper herab und wartete auf eine Bewegung, ein Zeichen, dass sich die Nervenbahnen erneuerten, über die mein Gehirn seine Befehle an die Muskeln schickte.
Die Elektroschocks, die meinen Körper durchzuckten, führten mich zu den Ereignissen des 6. April 1999 zurück, als ich zum ersten Mal am eigenen Leibe erfuhr, was wirkliche Schmerzen sind. Ich war mit India schwanger, und nachdem ich die ganzen Ratgeber der Nationalen Geburtshilfe-Stiftung für
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