So nah bei dir und doch so fern
Erstgebärende gelesen hatte, entschied ich mich für eine natürliche Geburt. Man gab mir ein TENS -Gerät (Transkutane Elektrische Nervenstimulation) mit Elektroden, die an mein Rückgrat geklebt wurden. Sobald ich erste Anzeichen einer Wehe spürte, musste ich einen Schalter bedienen, und ein elektrischer Impuls sollte dann die Schmerzsignale zum Gehirn unterbrechen und das Leiden minimieren. Nach vierundzwanzig Stunden mit qualvollen Geburtswehen kam India au naturel zur Welt. Ein Jahr später, als sich die Geburt von Harvey ankündigte, verlangte ich sofort nach Medikamenten!
Vor diesem Hintergrund hatte mich Alison auf der Intensivstation oft gefragt, wenn sie sich des Schmerzschaubilds bediente, ob der augenblickliche Schmerz mit dem bei der Entbindung vergleichbar sei, und wenn ich »ja« blinzelte, wusste sie, dass sie auf der Stelle Hilfe herbeirufen musste.
Drei Wochen nach meiner Einlieferung in die neue Abteilung gab es einen Durchbruch, als man mir einen Summer zuteilte. Meinen Kopf oder die Arme konnte ich immer noch nicht rühren, doch mein rechter Fuß ließ sich ein klitzekleines bisschen bewegen. Jedenfalls genug, wie man annahm, um den Fuß-Summer zu bedienen. Eine tolle Erfindung! Das Gerät wurde auf das Kissen unter meinem Fuß platziert. Zwar konnte ich meine Ferse nicht rühren, aber durch ein kurzes Ruckeln gelang es mir, den Fußballen lange genug zu heben, um den Knopf zu drücken und Hilfe zu rufen.
Es lässt sich leicht denken, dass dies als mittlere Katastrophe endete; aufgrund meiner begrenzten Möglichkeiten bat ich alle fünf Minuten um Hilfe, und es dauerte nicht lange, bis das Pflegepersonal die Nase voll hatte und den Summer wieder entfernte.
Ich erinnerte mich an einen Film über den Künstler Christy Brown, den ich vor Jahren zusammen mit Mark gesehen hatte. Christy Brown litt an Infantiler Zerebralparese, und er hatte gelernt, mit dem einzigen Körperteil, den er kontrollieren konnte, zu malen und zu schreiben: mit dem linken Fuß. Wie konnte ein Mensch nur derart Schönes einzig mit seinem Fuß schaffen, wenn ich noch nicht einmal imstande war, einen Knopf zu drücken?
Eins der frühen Ziele für mich und meine Therapeuten war »statisches Sitzen« über drei Minuten hinweg, womit die Therapeuten aufrechtes Sitzen meinten. Das klingt nach einer einfachen Übung, doch ich hatte sechs Wochen auf dem Rücken gelegen und keine Kontrolle über die Muskulatur, daher erwies sich die Aufgabe als gewaltige Herausforderung. Bei dieser Gelegenheit machte ich Bekanntschaft mit dem Kipptisch, einer Art Planke auf Rädern, die sich elektronisch senkrecht stellen ließ.
Während man mich auf der Intensivstation in einen gepolsterten Sessel gehievt hatte, der meinen leblosen Körper mithilfe jeder Menge Kissen stützte, wenn ich in den kleinen Garten gerollt wurde, sollte der Körper jetzt lernen, eine aufrechte Haltung zu ertragen. Ich wurde aus dem Bett gehoben und auf dem Kipptisch festgeschnallt. Als die Physiotherapeuten die Lederriemen um meine Arme und Beine zurrten, musste ich an amerikanische Kriminelle denken, die auf den elektrischen Stuhl kamen. Es fühlte sich an, als sei mein Leben selbst zum Todesurteil geworden. Zunächst wurde ich in eine diagonale Position gebracht, die ausreichte, um mir das Blut in den Kopf schießen und mich schwindlig werden zu lassen, sodass sich der Raum um mich drehte.
Zwei Mal pro Woche wurde ich auf diesen »Frankenstein-Tisch« gehievt, bis ich es schaffte, mehrere Minuten lang aufrecht zu bleiben. In dieser »stehenden« Position spürte ich, wie in meinen Beinen und Knöcheln Muskeln ihre Arbeit neu aufnahmen, als sie mich plötzlich wieder tragen mussten. Anfangs schmerzten sie, doch mit der Zeit gewöhnte ich mich an diese Haltung, und die Muskeln wurden kräftiger. Nebenbei gefiel es mir, den Leuten in aufrechter Haltung in die Augen zu schauen, statt sie immer auf mich hinabblicken zu sehen. Das stärkte mein Selbstvertrauen. Allerdings berührte die Kipptisch-Therapie meine Freundinnen eigenartig, wenn sie gelegentlich das Pech hatten, mich währenddessen zu besuchen, weil es aussah, als platzten sie mitten in eine Kreuzigung.
Als Nächstes kam das Sitzen auf der Bettkante dran. Diese Übung brachte erneut ungeheure Mühen sowohl für mich als auch für die Therapeuten mit sich. Ich wurde in eine Position hochgehoben, bei der eine Hand auf dem Bett ruhte und meine Füße die Balance halten mussten, während auf jeder Seite ein
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