So nah bei dir und doch so fern
Realität entpuppte es sich eher als Gefängniszelle mit gelegentlichem Freigang bei gutem Verhalten. Vorläufig aber war ich heilfroh, der beklemmenden Atmosphäre und alles überlagernden Düsternis der Intensivstation entronnen zu sein.
Wenn meine Rehabilitation erfolgreich verlaufen sollte, musste ich mir unbedingt Ziele setzen. Der Weg war lang, und meine Freundin Jaqui pflegte immer zu sagen: »Einen Elefanten kannst du nicht auf einmal verspeisen, du musst mundgerechte Stücke nehmen.«
Mir erschienen diese ersten Ziele winzig, tatsächlich aber waren sie riesig: sitzen; die Hand bewegen, um mich zu kratzen; um Hilfe bitten und einen Schreibstift halten; aufrecht stehen; ohne Schlauch atmen und wieder Flüssigkeiten trinken. Auf lange Sicht wollte ich gehen und sprechen; normales Essen zu mir nehmen; zu Hause leben; wieder Mama sein und laufen gehen.
Die Verlegung nach Osborn 4 war eines meiner Hauptziele auf der Liste gewesen. Man hatte mir erzählt, ich käme in eine offene Abteilung, in der sich Patienten, die gerade aus der Intensivpflege entlassen worden waren, akklimatisieren sollten, bevor es zur Reha ging. Da es aber keine freien Betten gab, fiel diese Zwischenstufe weg.
Mit dem Schichtwechsel in dieser ersten Nacht in Osborn 4 machte ich gleich Bekanntschaft mit einem Albtraum – Lorna. Sie war eine der älteren Schwestern, ein Monstrum von Frau, die mich in Angst und Schrecken versetzte.
Um Gottes willen, wo bin ich denn hier gelandet?, dachte ich, als Lorna in ihrer bedrohlichen Art durch die Abteilung watschelte. Es dauerte zwei Monate, bis sie mir zum ersten Mal in die Augen schaute. In ihrer Gegenwart hatte ich immer das Gefühl, ich sei an meinem Zustand selbst schuld.
Die ersten paar Wochen in dieser neuen Umgebung dienten als Entwöhnung von der persönlichen Pflege auf der Intensivstation und einem langsamen Hineinwachsen in das Physiotherapieprogramm. An meinem physischen Zustand hatte sich nicht viel geändert. Ich wurde immer noch künstlich beatmet, über eine PEG -Sonde ernährt und über einen Katheter trockengelegt. Es gab nichts, was ich selbstständig tun konnte. Doch noch während meines Aufenthalts auf der Intensivstation hatte es in meinem rechten Daumen ein leichtes Zucken gegeben. Mein Physiotherapeut hatte es bemerkt, während er hin und her überlegte, was er in unseren Übungsstunden mit mir trainieren konnte.
»Das ist ein gutes Zeichen!«, jubelte er in seinem schweren neuseeländischen Dialekt.
Es war nur ein einziges Mal geschehen und daher zu unbedeutend, um als signifikant durchzugehen, doch es war immerhin ein Zeichen, dass sich möglicherweise neue Nervenbahnen bildeten, über die mein Gehirn Impulse zu den Muskeln senden konnte. Allerdings war mein Rehabilitationsteam der festen Überzeugung, jede Form von Bewegung, die sich bei mir einstellen sollte, würde zufällig und nicht zwangsläufig praktisch für mich sein. So sei es denkbar, dass ich zwar irgendwann einen Daumen bewegen könne, nicht aber unbedingt auch einen Kugelschreiber halten oder mir den Arsch abwischen.
In diesem Stadium kamen die Mediziner auch zu der Meinung, mein Weinen sei auf den Verlust meines früheren Lebens zurückzuführen. Tatsächlich hatte ich wie ein Baby gelernt, dass Weinen einem Aufmerksamkeit verschaffte, und außerdem war es die einzige Kommunikationsform, die ich kontrollieren konnte. Folglich weinte ich wie ein Säugling, sobald ich das warme, unangenehme Gefühl einer nassen Windel spürte, und ich hoffte, die Schwestern würden den Geruch wahrnehmen und meine Windel wechseln.
Auch wenn mir zu warm war und ich einen Ventilator zur Kühlung wünschte, weinte ich. Und wenn ich mich unwohl fühlte, weil ich stundenlang in derselben Lage hatte verharren müssen und auf die andere Seite gelegt werden wollte, damit der Druck von meinen schmerzenden Gelenken genommen wurde, weinte ich wieder.
Eigentlich sollte meine Position alle vier Stunden gewechselt werden, doch manchmal vergaßen es die Schwestern, und dann glaubte ich, eine Ewigkeit so zu liegen, unfähig, mich selbst zu bewegen und den Druck zu mindern. Dies war mit das Grausamste am Eingeschlossensein: Ich spürte den Schmerz, obwohl mein Körper völlig gelähmt war und ich nichts dagegen unternehmen konnte.
Mein Weinen erinnerte mich an eine Begebenheit, als Woody erst ein paar Monate alt war, und Alison für mich und die anderen Freundinnen einen Wir-verwöhnen-uns-Weiberabend schmiss. Meine Mutter passte auf
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