So nah bei dir und doch so fern
auch meinen rechten Fuß.
Eines Nachmittags saß ich mit meiner Mutter im Garten und starrte auf die Kommunikationstafel als Zeichen, dass ich etwas mitteilen wollte. Auf dem Weg in den Garten war ich an einer verglasten Brandschutztür vorbeigekommen, in der ich zum ersten Mal mein Spiegelbild erblickt hatte. Ich erkannte die alte Frau, die mir entgegenblickte, nicht. Sie war dürr, das Haar hing welk und grau um das bleiche Gesicht. Die Augen waren eingesunken, der Blick leer, der Mund stand offen, deformiert, missmutig. Ich war um dreißig Jahre gealtert. Mehr als drei Monate hatte ich es vermieden, in einen Spiegel zu schauen, und bei dem Anblick, der sich mir jetzt bot, drehte sich mir der Magen um. Nun begriff ich, weshalb meine Kinder jedes Mal zögerten, bevor sie mir zum Abschied einen Kuss gaben.
Meine Mutter nahm die Kommunikationstafel und begann die Farbreihen durchzugehen. »Rot?« Ich blinzelte ein Mal für »nein«. »Gelb?« Ein Blinzeln. »Blau?« Zwei Mal blinzeln für »ja«. Sie ging die Reihe mit den blauen Buchstaben durch … »I?« Ein Blinzeln. »J?« Wieder ein Blinzeln. »K?« Zwei Mal blinzeln bei K. Es ging wieder zum Anfang zurück. »Rot?« »Gelb?« »Blau?« »Grün?« Bei Grün blinzelte ich zwei Mal. »O?« Ein Blinzeln. »P?« Ein Blinzeln. »Q?« Ein Blinzeln. »R?« Zwei Mal blinzeln, es war R. Als sie erneut zur grünen Reihe kam, blinzelte ich zwei Mal bei U. In der gelben Reihe zwei Mal blinzeln bei E. Grüne Reihe O, ein Blinzeln, P zwei Mal blinzeln. Und noch einmal dasselbe für das zweite P. Gelbe Reihe bis zum E. Blaue Reihe, I, J, K, L. Zwei Mal blinzeln für L. Schließlich ein zweimaliges Blinzeln, um zu zeigen, dass das Wort fertig war. KRUEPPEL .
Da war es, ich hatte es gesagt. Ich wusste natürlich, dass es politisch nicht korrekt war. Doch es hatte keinen Zweck, den Tatsachen aus dem Weg zu gehen. Das war ich jetzt nun mal: ein Krüppel.
Wütend warf meine Mutter die Tafel zur Seite und sagte: »Kate, ich höre sofort auf, wenn du weiter so daherredest.« Dabei hatte ich nur ausgedrückt, was ich gesehen hatte. Es ärgerte meine Mutter, dass ich mich derart äußerte, aber so fühlte ich mich eben.
Als ich wieder alleine war, kehrte die Unsicherheit zurück und verfolgte mich. Sah Mark dasselbe wie ich? Fragte er sich, was aus seiner Kate geworden war, dem Mädchen mit dem schönen Haar und dem »Knackarsch«, in das er sich vor all den Jahren verliebt hatte? Falls es so war, dann gelang es ihm, es hinter einem Lächeln und einem Scherz zu verbergen. Doch ich konnte nicht anders, als zu denken, dass ich an seiner Stelle nicht den Rest meines Lebens mit einem Invaliden verbringen wollte.
»Warum GERADE ICH ?«, buchstabierte ich eines Tages, als Alison und meine Mutter mit der Kommunikationstafel an meinem Bett saßen. Ich sah, wie Alison meiner Mutter einen Blick zuwarf, als wolle sie fragen: »Scheiße, was sollen wir ihr darauf bloß antworten?«
Meine Mutter versuchte es mit der Erklärung, die der irische Arzt ihr zu Beginn gegeben hatte. Sie sagte, manchmal erwische es gerade Leute, die zu fit sind. Superfitte Menschen könnten ihre Blutgefäße zu sehr belasten, und dann könnten sich Gerinnsel bilden. Anscheinend habe sich das bei mir so abgespielt.
Ich überdachte meinen Lebensstil, und obwohl er mir seinerzeit nicht sonderlich exzessiv erschienen war, hatte ich mir vielleicht doch zu viel abverlangt. Die Neugründung meines Unternehmens hatte mich ungeheuer unter Druck gesetzt, weil ich unbedingt erfolgreich sein wollte; meinen Körper hatte ich noch stärker gefordert, um die nötige Fitness für eine Besteigung des Kilimandscharo zu erlangen. Mit den privaten Trainingseinheiten und dem militärischen Ausbildungslager zusätzlich zu dem Wochenprogramm von über 100 Kilometer Laufstrecke hatte ich es wirklich auf die Spitze getrieben. Aber ich liebte die Herausforderung und die Strapazen.
Ich setzte mir ein Ziel. Unter keinen Umständen würde ich den Rest meines Lebens im Rollstuhl verbringen, und ich wollte meine Hand wieder so weit bewegen können, dass ich auf die Buchstaben meiner Kommunikationstafel zeigen oder meine Gedanken niederschreiben konnte, damit ich nicht mehr auf diese Tafel angewiesen war.
KAPITEL 17
Die wollen mich umbringen
N och Wochen nach meiner Verlegung nach Osborn 4 verfolgte mich ein Vorfall, der mich zu der Überzeugung kommen ließ, eine der Schwestern auf der Intensivstation habe versucht, mich zu töten. Ich war
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