So nah bei dir und doch so fern
nicht sicher, ob es wirklich geschehen war oder der Medikamenten-Cocktail zu Halluzinationen geführt hatte, aber in meiner Vorstellung stand fest, dass die in der fraglichen Nacht diensthabende Schwester versucht hatte, meinem Leben mit einer Grafitinfusion ein Ende zu bereiten.
Bei klarem Verstand hätte ich dahinterkommen müssen, dass es gar keine Grafitinfusionen gab und die Schwester, von der ich glaubte, sie wolle meinen Tod, schon lange nicht mehr für mich zuständig war, und hätte ich mich sicher fühlen können. Doch eine Kombination aus mangelnder Information über meine Heilungsaussichten in dieser Frühphase, meiner eigenen Paranoia, für einen nicht lebenswerten Fall gehalten zu werden, und dem generellen Überdruss, ständig untätig sein zu müssen, führte dazu, dass ich diesen Vorfall nicht aus meinem Gedächtnis streichen konnte. Er schwebte so lebendig vor mir, dass er einfach stattgefunden haben musste. Immer und immer wieder spielte er sich vor mir ab.
Ich hatte versucht, Mark meine überwältigenden Ängste zu beschreiben, doch in seiner typisch männlichen Manier meinte er bloß, ich solle mich nicht so furchtbar aufregen. Meine Mutter war verständnisvoller, als ich ihr davon zu berichten versuchte, doch sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte, ohne für genauso paranoid wie ihre Tochter gehalten zu werden.
Die ganze Geschichte setzte mir ungeheuer zu, deprimierte und regte mich zugleich so sehr auf, dass mich Alison eines Tages bei einem Besuch, als sie mich in den Garten schob, in ihrer üblichen nüchternen Art fragte: »Was ist los mit dir?«
Sie kam verlässlich immer direkt auf den Punkt – weshalb also bei meiner besten Freundin lange um den heißen Brei herumreden?
» SCHWESTER WOLLTE MICH UMBRINGEN «, buchstabierte ich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mir ganz geglaubt hat, aber sie fragte dennoch weiter: »Beunruhigt dich das?«
Ich blinzelte ein Mal für »nein«.
»Hast du denn Angst, dass es hier wieder passieren könnte?«
Erneut blinzelte ich ein Mal für »nein«.
»Weshalb erzählst du es mir dann? Was soll ich unternehmen?«, fragte sie in einem Ton, den sie normalerweise anschlug, wenn ihr die Kinder das Leben schwer machten.
› FEUER SIE ‹, antwortete ich, und Alison prustete los, in ihrem warmen Gekicher, das mich immer ansteckte, sodass ich wie ein albernes Schulmädchen nicht mehr aus dem Lachen herauskam. Und obwohl ich keinen Ton von mir geben konnte, begannen meine Augen zum ersten Mal seit Tagen wieder zu glänzen.
Danach tauschten sich Alison und meine Mutter aus und beschlossen, die Angelegenheit nicht länger zu ignorieren, wie lächerlich sie auch klingen mochte. Meine Mutter kontaktierte Lynne, meine Psychologin, und reichte eine offizielle Beschwerde ein. Eine Oberschwester erhielt den Auftrag, den Fall zu untersuchen. Es wurde ein Treffen mit dem Beschwerdekoordinator, einer Krankenschwester, meiner Psychologin, meiner Mutter und mir arrangiert. Dort hatten wir Gelegenheit, die ganze Geschichte mit der »Grafitinfusion« darzulegen und zu berichten, wie das Gelächter und die aufgeschnappten Wortfetzen der schwatzenden Schwestern in der Nische neben meinem Bett meine Paranoia genährt hatten.
Die Schwester, um die sich der ganze Fall drehte, geriet durch meinen Vorwurf völlig aus der Fassung, denn sie war der Ansicht gewesen, eine gute Beziehung zu mir entwickelt zu haben. Gerechterweise muss gesagt werden, dass sie es war, die meinen Kommunikationsprozess eingeleitet hatte, indem sie die laminierte Tafel mit dem »Ein Mal blinzeln für ›nein‹, zwei Mal für ›ja‹« anfertigte. Dennoch hatte ich immer das Gefühl, ihre fürsorgliche Seite sei nur eine Fassade, die aufgesetzt wurde, wenn Besucher in der Nähe waren, und die sie fallen ließ, sobald wir alleine waren.
Schließlich stellte sich als wahre Geschichte hinter meinem Albtraum heraus, dass sich in der fraglichen Nacht der Zustand meiner Lunge verschlechtert und ich unter Flüssigkeitsretention gelitten hatte. Die Schwester befestigte einen Tropf mit Kochsalzlösung an dem Schlauch in meinem Mund, um den Schleim in den Lungenflügeln zu lösen, damit er leichter abgesaugt werden konnte. Außerdem litt ich unter Verstopfung, und so wurde mir über den Nasenschlauch ein dunkelbraunes flüssiges Abführmittel verabreicht.
Das Ergebnis der Untersuchung lautete: »Es gibt keinen Hinweis auf irgendein Medikament oder eine Substanz, die als ›Grafit‹
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