So nah bei dir und doch so fern
Therapeuten immer um drei oder vier Wochen voraus. Bislang hatte das Therapeutenteam keinerlei Erfahrungen mit jemandem, der sich nach einem derart massiven Schlaganfall wieder zu bewegen begann. Selbst in den Empfehlungen des »Nationalen Instituts für neurologische Erkrankungen und Schlaganfall« hieß es: »Obwohl einige Patienten in seltenen Fällen möglicherweise gewisse Funktionen zurückerlangen können, sind die Chancen einer motorischen Gesundung äußerst gering.«
Es gab nur wenige positive Präzedenzfälle, an die sich die Therapeuten und ich hätten klammern können. Der bekannteste Fall von Locked-in-Syndrom – Jean Dominique Bauby, Chefredakteur des französischen Magazins Elle , auf dessen Lebensgeschichte der Film Schmetterling und Taucherglocke basiert – erlangte bis zu seinem Tode nicht mehr als die Möglichkeit, sich mit Blinzeln zu verständigen. Und Berichte im Internet und in den Medien über andere Fälle gingen kaum über das Blinzeln mit einem Auge oder ausreichend Bewegung in einer Hand hinaus, um einen speziellen Computer oder elektrischen Rollstuhl zu bedienen.
Mit diesen Dingen im Hinterkopf nahm ich mir zum Ziel, Anfang Juni beweglich genug zu sein, um Mark und die Kinder in die Ferien zu begleiten, und ich riss mich in der Therapie gewaltig zusammen. Meine Familie wiederum setzte sich mit den Therapeuten zusammen, die einen Aktionsplan ausarbeiteten.
Ganz oben auf meiner Prioritätenliste stand die Entfernung meiner Tracheotomiekanüle oder »Trachi«, wie die Schwestern und Pfleger das Biest zärtlich nannten. Für mich war der Schlauch in meiner Luftröhre immer nur eine vorübergehende Maßnahme gewesen, und ich war fest davon überzeugt, dass er eines Tages herausgenommen werden würde, sodass die Wunde in meinem Hals heilen konnte. Außerdem gierte ich danach, Schluckversuche zu unternehmen, um zu sehen, ob ich wieder Earl Grey Tee trinken konnte.
Immer noch hing das blöde Schild »Nichts durch den Mund« über meinem Bett, während ich nach Tee oder irgendeiner Flüssigkeit schmachtete, um meinen fürchterlichen Durst zu löschen. Beide Maßnahmen mussten durch einen speziellen Arzt durchgeführt werden, und so begann die erste vieler frustrierender Wartezeiten. Jeden Morgen beobachtete ich ihn, wie er seine Runde in der Abteilung machte, und jedes Mal hoffte ich, heute sei der Tag, an dem er bei mir mit den Versuchen beginnen würde.
Irgendwann kontrollierte dieser Arzt endlich meine Atmung. Er hielt seine Hand auf das Ende der Trachi, um zu testen, ob ich ohne künstliche Hilfe atmen konnte, und nachdem ich diesen einfachen Test bestanden hatte, stimmte er zu, mich an ein SATS -Gerät anzuschließen, einen Sauerstoffsättigungs-Monitor. An meinem großen Zeh wurde eine Klammer befestigt, die den Prozentsatz sauerstoffreicher Hämoglobinmoleküle in meinem Blut überwachte. Indem es einen Lichtimpuls durch meinen Zeh jagte, konnte das Gerät den prozentualen Sauerstoffanteil meines Bluts ermitteln. Das Gerät war alarmgesichert, und wenn der Sauerstoffanteil unter neunundachtzig Prozent sank, piepte es wie eine Mikrowelle. Die Trachi würde erst entfernt werden, wenn ich es achtundvierzig Stunden lang schaffte, keinen Alarm auszulösen.
An den folgenden Tagen wurde ich zur Sklavin dieser verfluchten Maschine, und es fühlte sich an wie bei Woodys Operations-Spiel, bei dem eine unsichere Hand ein Signal auslöste, das einem verriet, dass man verloren hatte. Doch statt mit einer Pinzette kleine Plastikkörperteile vom Spielbrett nehmen zu müssen, brauchte ich bei meinem Geschicklichkeitsspiel nichts Komplizierteres zu tun, als meine Lunge aus eigener Kraft mit Luft zu füllen – und dennoch gelang es mir nicht.
Ich spürte, wie mein Atem flacher wurde, und ich musste mit ansehen, wie der Messwert auf dem Monitor immer mehr absank. Ich konnte mich anstrengen, so viel ich wollte, das Piepen vermochte ich nicht zu stoppen. Besonders frustrierend war das, je mehr ich mich dem Schwellenwert von achtundvierzig Stunden näherte und zu befürchten stand, dass alles wieder von vorne begann.
Einmal blinzelte ich Alison zu, sie solle die Sonde von meinem Zeh lösen. Als die Schwester sah, was Alison getan hatte, machte sie ihr eine heftige Szene und wies darauf hin, wie wichtig es sei, meine Atmung kontinuierlich zu überwachen.
»Sie ist schuld, sie wollte, dass ich es tue«, sagte Alison und zeigte auf mich, während ich hilflos in meinem Bett lag und mich um eine
Weitere Kostenlose Bücher