So nah bei dir und doch so fern
Nutzen sein. Ich selbst hatte bereits beschlossen, Laufen sei wichtiger als Sprechen, doch wenn sich die Chance bot, beides zu schaffen, sollte mir das natürlich recht sein. Nach einigen Untersuchungen befanden die Therapeuten, die Anlage sei für meine Bedürfnisse geeignet.
Ein paar Tage später liehen sie ein Gerät aus einer anderen Abteilung aus und stellten es neben meinem Bett auf, mit dem Bildschirm direkt vor mir. Der Schalter in meiner Hand verschaffte mir neue Freiheit. Während ich immer noch nicht die Kraft besaß, einen Kugelschreiber zu halten oder zu schreiben, konnte ich den Cursor auf dem Monitor durch langsame, ruckelnde Bewegungen verschieben, sodass ich Wörter buchstabieren, bei Bedarf das Alarmsystem bedienen und sogar durch die Fernsehprogramme zappen konnte. Sobald ich alleine war, begann ich damit zu experimentieren und Wörter auf den Bildschirm zu zaubern. Ich nutzte das Alarmsystem und rief Oliver, meinen Lieblingskrankenpfleger. Als er zu mir ans Bett kam, bemerkte er meinen zufriedenen Gesichtsausdruck. Auf dem Bildschirm prangte der Satz: ICH WERDE WIEDER LAUFEN .
»Ja, genau«, sagte er lachend.
Ich erinnere mich noch lebhaft an das Datum. Es war der 1. Mai 2010. Außer mir selbst wollte niemand diesem Versprechen glauben. Für mich wurde es ein Mantra.
Das einzige Problem von GRID 2 waren die Kosten: 6 000 Pfund. Meine Freundinnen wollten mir helfen, »sprechen« zu können. Ich fürchte, sie waren die mühsame Verständigung über die Kommunikationstafel genauso leid wie ich. Was auch immer ihr Motiv gewesen sein mag, jedenfalls steckten sie bei einem Glas Shiraz die Köpfe zusammen und entwickelten den Plan, eine Wohltätigkeitsveranstaltung zu organisieren, um das nötige Geld zu sammeln.
Das Netzwerk von Dore, bestehend aus Dorfbewohnern, Eltern der Schulkinder und Kirchenmitgliedern, bot Mark ständig Geld an, um seine Hilfsbereitschaft zu zeigen. Man war bereits so nett gewesen, für die Familie zu kochen, und Mark hatte dies auch dankbar angenommen. Geld jedoch war eine andere Sache, und da ihm die Vorstellung missfiel, unsere Familie könne als Sozialfall betrachtet werden, lehnte er es kategorisch ab, Geldspenden anzunehmen. Er hatte einen Arbeitsplatz, verdiente gutes Geld, und ich war beim staatlichen Gesundheitsdienst in Behandlung, folglich bestand kein Bedarf an Almosen, egal, wie gutgemeint sie auch sein mochten. Dennoch nahmen die Angebote kein Ende, und so waren es letztlich Anita, Alison und Jaqui, die den Plan für eine Wohltätigkeits-Radtour ausheckten.
Mark ließ sich nicht so schnell überzeugen, doch schließlich gab er unter dem Druck meiner Freundinnen klein bei und stimmte zu, dass sie eine einfache Radtour für die Kinder und deren Freunde rund um eines der örtlichen Kleinode, Ladybower und Derwent Reservoirs, veranstalteten.
Keine meiner Freundinnen wusste, wie man so eine Veranstaltung organisieren sollte. Das war mein Job gewesen. Ich war diejenige, die die Leute davon überzeugen konnte, für einen guten Zweck extreme Dinge zu tun. Für Wohltätigkeitszwecke hatte ich bereits erfolgreich die Three Peaks Challenges bestritten, und meine Idee war es gewesen, zur Unterstützung des örtlichen Kinderhospizes den Kilimandscharo zu besteigen. Und ich wäre liebend gerne an einem sonnigen Frühlingsnachmittag mit dem Fahrrad um den Stausee gefahren, statt aus meinem Bett gehievt und in der Abteilung herumgekarrt zu werden.
Der Stausee erinnerte mich an einen verrückten Nachmittag mit Mark, als wir unsere ersten Verabredungen trafen. Wir waren mit dem Fahrrad zu einem Picknick aufgebrochen. Am Stausee angekommen, waren wir erhitzt und verschwitzt und brauchten Abkühlung. Wir ignorierten die Schilder mit »Achung! Baden verboten!« und forderten uns gegenseitig heraus, uns ins Wasser zu stürzen. Ich sprang zuerst, und Mark tat es mir nach. Es war saumäßig kalt. Wie es uns gelang, den Kälteschock ohne Herzinfarkt zu überstehen, weiß ich selbst nicht. Jedenfalls hielt es uns nicht davon ab, ein ums andere Mal zu springen, bis wir total erschöpft und berauscht waren.
Nachdem Datum und Treffpunkt festgelegt waren, entwickelte sich die Wohltätigkeits-Radtour zu einem Selbstläufer. Vielleicht half ich unbewusst nach, weil ich wollte, dass meine Kinder und Freundinnen sie zu einem Erfolg machten, auf den ich stolz sein konnte. Und das taten sie.
Am fraglichen Tag erschienen über 200 Leute und radelten die zwanzig Kilometer rund um den Stausee.
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