So nah bei dir und doch so fern
enzyklopädisches Wissen verfügte, und ich verbrachte endlose Stunden damit, es anzuzapfen und ihn zu fragen, was ich tun musste, um meinen Katheter und die Windeln loszuwerden. Er erklärte mir auch, was ich tun musste, um wieder gehen zu können. Seine Ratschläge waren von unschätzbarem Wert und beschleunigten meine Genesung.
Einige der jüngeren Schwestern kamen zu mir ins Einzelzimmer, um fernzusehen oder meinen Computer zu benutzen. Selbst zu jenen, die ich anfangs wegen ihrer Kleinlichkeit und Strenge nicht mochte, entwickelte ich irgendwann ein wärmeres Verhältnis. Ich begann sie eher als Freundinnen und Freunde, denn als Pflegepersonal zu betrachten, und ihnen gefiel meine direkte, positive Art.
Oft fuhr ich mit dem Rollstuhl zum Schwesternzimmer und verbrachte dort meine Zeit. Eines Tages saß ich während der Mittagspause mit den Schwestern und Pflegern zusammen, als der schwule Pfleger mit seinem üblichen Gejammer über sein Gewicht anfing, und dass keine seiner Diäten erfolgreich seien. Als er sein neuestes »Diät-Paket« bestehend aus zwei Tüten Chips, einer Schokoladentafel und einem WeightWatchers-Speckpfannkuchen auf den Tisch legte, schrieb ich auf ein Stück Papier:
Weshalb nicht einfach weniger essen?
Oliver, der sich die Gespräche anhörte, aber nichts sagte, lachte sich krumm über meine Direktheit.
Als ich so weit war, Osborn 4 zu verlassen, hatte ich die guten und die schlechten Seiten des Krankenpflegesystems im Nationalen Gesundheitsdienst kennengelernt, und ich war zu vielen Schlüssen gekommen. Daher möchte ich den Ärzten, die geistig wahrnehmungsfähige Patienten behandeln, als Abschiedsgeschenk ein paar Ratschläge mit auf den Weg geben:
• Gehen Sie nicht davon aus, dass jemand dumm ist, nur weil er sich nicht bewegen kann. Versuchen Sie es mit einem einfachen Blinzel-Test beim Patienten, um festzustellen, ob Gehirnleistung vorhanden ist.
• Reden Sie nicht am Patienten vorbei, sprechen Sie ihn direkt an. Wissen Sie, wie ungehobelt und erschreckend das ist? Selbst wenn der Patient nicht sprechen kann, er versteht, was Sie sagen.
• Stellen Sie Blickkontakt her. Wenn die Augen das einzige verfügbare Kommunikationsmittel sind, dann ist die Weigerung, dem Patienten in die Augen zu schauen, nichts als pure Ignoranz.
• Bemühen Sie sich, die eigentliche Ursache zu behandeln, nicht nur die Symptome. Hat der Patient Schmerzen? Wenn eine simple Maßnahme wie das Bewegen eines Beins oder der Schulter Linderung verschafft, sorgen Sie dafür, dass es gemacht wird.
• Glauben Sie nicht, nachts sei es einfach. Es ist die schlimmste Zeit. Fürchtet sich Ihr Patient vor der Nacht, weil er nicht schlafen kann? Finden Sie es schnell heraus und verabreichen Sie ihm Schlafmittel, falls erforderlich. Müdigkeit lässt es einem noch schlechter gehen, als man ohnehin schon dran ist.
• Benutzen Sie Ihren Patienten nicht als die nächste Fallstudie. Denken Sie daran, dass jeder Mensch ein Individuum mit seiner ganz eigenen Schmerztoleranz ist und dass er fühlt, was mit ihm nicht stimmt.
• Vermuten Sie nicht, Locked-in-Syndrom-Patienten würden weinen, weil sie traurig sind. Vielleicht ist es ein Betteln um Hilfe, weil ihnen zu heiß ist oder zu kalt oder weil sie umgedreht werden müssen. Ignorieren Sie ihn also nicht in der Hoffnung, er würde schon irgendwann zu weinen aufhören.
• Seien Sie nicht pessimistisch, seien Sie aufgeschlossen. Nur weil Sie noch keine positiven Erfahrungen bei der Behandlung von Patienten mit Locked-in-Syndrom gemacht haben, heißt das noch lange nicht, dass diese sich nicht einstellen können. Lesen Sie die positiven Erfahrungsberichte anderer Menschen und teilen Sie diese mit den Patienten, um ihnen Hoffnung zu machen. Lassen Sie ihnen die Möglichkeit, sich ihr eigenes Urteil zu bilden.
• Unterschätzen Sie nicht die Intuition Ihrer Patienten. Denken Sie immer daran: Sie kennen ihren Körper besser als Sie.
• Tun Sie etwas so Einfaches, wie den Fernsehkanal für den Patienten zu wechseln. Dafür braucht man zwar keinen akademischen Abschluss als Mediziner, aber es kann die Langeweile des Patienten verringern.
• Legen Sie der Therapie keine Beschränkung auf. Wenn der Patient nach mehr verlangt, lassen Sie es zu.
• Bauen Sie keine Schranken auf, die Fortschritte, Grenzen oder Zeitpläne bei dem, was erreicht werden soll, blockieren. Hören Sie zu, lernen Sie, ermutigen Sie und nennen Sie alle sechs Wochen klar definierte Ziele,
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