So nicht, Europa!
besitzt das alles nicht. Nicht einmal Experten
trauen sich zu, zu sagen, wie viele ethnische Gruppen es in Afghanistan gibt. Schätzungen schwanken zwischen 50 und 200 –
wobei die Zugehörigkeit zu einer Volkszugehörigkeit je nach Nützlichkeitserwägungen durchaus kurzfristig wechseln kann. Die
Grenzen zwischen Freund und Feind verlaufen durch schwer erkennbare und unbeständige Allianzen, Koalitionen und Verhaltensmuster,
und die Verdienstmöglichkeiten durch Drogenhandel oder Schmuggel liegen um ein Vielfaches höher als die Gehälter, die die
Regierung ihren Beamten, Polizisten und Soldaten bieten kann.
Eine Konstante, so dämmert es dem Reisenden in den unwirtlichen Staubwüsten des Hindukusch, zeichnete die Historie Afghanistans
schon immer aus: die stets aufs Neue eindrucksvolle Abstoßung fremder Mächte. Schon im 19. Jahrhundert bezahlten Russen und Engländer einen entsetzlich hohen Preis für ihr imperiales »Great Game«. Eine besonders berüchtige
Episode spielte sich am 6. Januar 1842 ab. 17.000 britische Soldaten und Beamten verließen Kabul in Richtung Dschlalabad. Der Marsch des Konvois endete
mit dem größten Debakel der britischen Kolonialgeschichte. Nach der gängigen Überlieferung töteten afghanische Krieger alle
Angehörigen des Trosses bis auf einen Militärarzt. Die berühmte dichterische Verarbeitung des Massakers von Theodor Fontane
in der Ballade ›Das Trauerspiel von Afghanistan‹ (1858) ist heute bei den Soldaten der Isaf-Schutztruppe in aller Munde:
Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.
Natürlich lässt sich der heutige Einsatz Amerikas und Europas am Hindukusch nicht mit den Unterwerfungsfeldzügen des 19. Jahrhunderts vergleichen. Heute geht es um Hilfe zur Selbsthilfe, es geht nicht um die Niederdrückung afghanischer Herrschaft,
sondern im Gegenteil um ihren Aufbau. Simpler historischer Parallelismus ist deshalb fehl am Platz. Andererseits hat sich
am geografischen und gesellschaftlichen Zuschnitt des Landes, jedenfalls außerhalb der Städte, in den vergangenen 150 Jahren kaum etwas verändert. Das Land verfügt über nur 24 km Schienennetz und 45.000 Festnetztelefonanschlüsse. Nur sechs Prozent der Staatsfläche ist aufgrund des enormen Anteils an steinigem Gebirge landwirtschaftlich
nutzbar. Gleichwohl arbeiten zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft. Nur sechs Prozent der Bewohner verfügen über
elektrischen Strom, 90 Prozent der Frauen sind Analphabeten, und die Opiumproduktion betrug 2007 8200 Tonnen, das sind 3000 Tonnen mehr als die gesamte sonstige Weltproduktion. Der Verkauf des Heroingrundstoffes bringt etwa das Zehnfache des Gewinns,
der durch Weizenanbau erreicht würde. Kein Wunder, dass der Opiumhandel fast die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts ausmacht
und von mafiosen Privatmilizen kontrolliert wird. 85
Afghanistan ist – nach allen europäischen Maßstäben – unbeherrschbar geblieben. Hinter jeder der Bergketten, die das Land
durchziehen wie Festungszinnen, kann ein anderer Kriegsfürst lauern. Es mag zynisch klingen, aber die Folge kolonialer (bis
1919), kommunistischer (1979 – 1988) und islamistischer (bis heute) Eroberungszüge hat viele Afghanen eben nicht nur gelehrt, mit dem Krieg, sondern auch
vom Krieg zu leben. »Afghanistan bleibt ein Land, in dem ein erheblicher Anteil der männlichen Bevölkerung keinen anderen
Beruf gelernt hat als den des Kriegers. Schätzungen gehen von 1800 illegalen bewaffneten Gruppen mit einer Gesamtstärke von
bis zu 130.000 Kämpfern aus«, heißt es in einem Handbuch, das jedem Bundeswehrsoldaten, der in den Afghanistaneinsatz aufbricht, ins Marschgepäck
gegeben wird. Der amtliche Reiseführer des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes warnt: »Greifen ausländische Kräfte in die
Machtstrukturen ein, laufen sie selbst Gefahr, Ziel von Angriffen zu werden.« 86
Gegen all das, gegen Narko-Warlords, Steinzeitislamisten und korrupte Polizisten, setzt Europa auf einen allmählichen politischen
Klimawandel. Zweitausend gebaute Schulen, Millionen von Kindern,die lesen und schreiben lernen, Asphaltstraßen für Wandel durch Handel, das sei doch wohl eine sehenswerte Bilanz, rühmen
sich europäische Generale, wenn man sie in ihren Feldlagern besucht. Sicher ist sie das. Doch was davon geht eigentlich
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