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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
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besitzt das alles nicht. Nicht einmal Experten
     trauen sich zu, zu sagen, wie viele ethnische Gruppen es in Afghanistan gibt. Schätzungen schwanken zwischen 50 und 200 –
     wobei die Zugehörigkeit zu einer Volkszugehörigkeit je nach Nützlichkeitserwägungen durchaus kurzfristig wechseln kann. Die
     Grenzen zwischen Freund und Feind verlaufen durch schwer erkennbare und unbeständige Allianzen, Koalitionen und Verhaltensmuster,
     und die Verdienstmöglichkeiten durch Drogenhandel oder Schmuggel liegen um ein Vielfaches höher als die Gehälter, die die
     Regierung ihren Beamten, Polizisten und Soldaten bieten kann.
    Eine Konstante, so dämmert es dem Reisenden in den unwirtlichen Staubwüsten des Hindukusch, zeichnete die Historie Afghanistans
     schon immer aus: die stets aufs Neue eindrucksvolle Abstoßung fremder Mächte. Schon im 19.   Jahrhundert bezahlten Russen und Engländer einen entsetzlich hohen Preis für ihr imperiales »Great Game«. Eine besonders berüchtige
     Episode spielte sich am 6.   Januar 1842 ab. 17.000 britische Soldaten und Beamten verließen Kabul in Richtung Dschlalabad. Der Marsch des Konvois endete
     mit dem größten Debakel der britischen Kolonialgeschichte. Nach der gängigen Überlieferung töteten afghanische Krieger alle
     Angehörigen des Trosses bis auf einen Militärarzt. Die berühmte dichterische Verarbeitung des Massakers von Theodor Fontane
     in der Ballade ›Das Trauerspiel von Afghanistan‹ (1858) ist heute bei den Soldaten der Isaf-Schutztruppe in aller Munde:
    Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
    Vernichtet ist das ganze Heer,
    Mit dreizehntausend der Zug begann,
    Einer kam heim aus Afghanistan.
    Natürlich lässt sich der heutige Einsatz Amerikas und Europas am Hindukusch nicht mit den Unterwerfungsfeldzügen des 19.   Jahrhunderts vergleichen. Heute geht es um Hilfe zur Selbsthilfe, es geht nicht um die Niederdrückung afghanischer Herrschaft,
     sondern im Gegenteil um ihren Aufbau. Simpler historischer Parallelismus ist deshalb fehl am Platz. Andererseits hat sich
     am geografischen und gesellschaftlichen Zuschnitt des Landes, jedenfalls außerhalb der Städte, in den vergangenen 150   Jahren kaum etwas verändert. Das Land verfügt über nur 24   km Schienennetz und 45.000   Festnetztelefonanschlüsse. Nur sechs Prozent der Staatsfläche ist aufgrund des enormen Anteils an steinigem Gebirge landwirtschaftlich
     nutzbar. Gleichwohl arbeiten zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft. Nur sechs Prozent der Bewohner verfügen über
     elektrischen Strom, 90   Prozent der Frauen sind Analphabeten, und die Opiumproduktion betrug 2007   8200   Tonnen, das sind 3000   Tonnen mehr als die gesamte sonstige Weltproduktion. Der Verkauf des Heroingrundstoffes bringt etwa das Zehnfache des Gewinns,
     der durch Weizenanbau erreicht würde. Kein Wunder, dass der Opiumhandel fast die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts ausmacht
     und von mafiosen Privatmilizen kontrolliert wird. 85
    Afghanistan ist – nach allen europäischen Maßstäben – unbeherrschbar geblieben. Hinter jeder der Bergketten, die das Land
     durchziehen wie Festungszinnen, kann ein anderer Kriegsfürst lauern. Es mag zynisch klingen, aber die Folge kolonialer (bis
     1919), kommunistischer (1979   –   1988) und islamistischer (bis heute) Eroberungszüge hat viele Afghanen eben nicht nur gelehrt, mit dem Krieg, sondern auch
     vom Krieg zu leben. »Afghanistan bleibt ein Land, in dem ein erheblicher Anteil der männlichen Bevölkerung keinen anderen
     Beruf gelernt hat als den des Kriegers. Schätzungen gehen von 1800 illegalen bewaffneten Gruppen mit einer Gesamtstärke von
     bis zu 130.000   Kämpfern aus«, heißt es in einem Handbuch, das jedem Bundeswehrsoldaten, der in den Afghanistaneinsatz aufbricht, ins Marschgepäck
     gegeben wird. Der amtliche Reiseführer des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes warnt: »Greifen ausländische Kräfte in die
     Machtstrukturen ein, laufen sie selbst Gefahr, Ziel von Angriffen zu werden.« 86
     
    Gegen all das, gegen Narko-Warlords, Steinzeitislamisten und korrupte Polizisten, setzt Europa auf einen allmählichen politischen
     Klimawandel. Zweitausend gebaute Schulen, Millionen von Kindern,die lesen und schreiben lernen, Asphaltstraßen für Wandel durch Handel, das sei doch wohl eine sehenswerte Bilanz, rühmen
     sich europäische Generale, wenn man sie in ihren Feldlagern besucht. Sicher ist sie das. Doch was davon geht eigentlich

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