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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa!
Autoren: Jochen Bittner
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Trauben vor den Bierlokalen. Enthusiasmierte Praktikantinnen in kurzen
     Röcken treffen junge Männer mit gelockerten Krawatten, um über Regionalförderung und grünes Wachstum zu reden. Hier pflanzt
     sich Europa fort. Am Wochenende ist der Place Lux zuverlässig leer gefegt. Da zieht es den homo europeensis nach Hause. Nach
     Paris, Berlin oder Rom. In echte Städte, eben.
    Es war ein Sonntag, und nicht irgendein Sonntag für Brüssel, sondern der 7.   Juni 2009, der Tag der Europawahlen. Eine österreichische T V-Journalistin zog mit einem Kamerateam über die Place Lux, auf der Suche nach »Europäern«, die sie nach ihrenErwartungen befragen wollte. Sie fand keine. Nur eine Handvoll anderer Journalisten saßen um ein, zwei Cafétische herum. Nachvollziehbarerweise
     verspürte keiner von ihnen große Lust, sich als »europäischer Wähler« interviewen zu lassen.
     
    Warum ist Brüssel in den Medien so schwer vermittelbar? Warum scheinen die Bürger vor E U-Fragen regelrecht zu fliehen? Woran liegt es, dass die 1100 akkreditierten Journalisten in dieser Stadt oft das Gefühl haben, sie
     müssten selbst ihre Kollegen in den Heimatredaktionen mit Europathemen zwangsernähren? Von den vielen Ursachen, die es für
     dieses Fremdeln gibt, sind einige hausgemacht. E U-Materien und ‑Zusammenhänge sind oft einfach extrem komplex. Die Verantwortlichen sind schwer zu erkennen. Und die Folgen von E U-Politik sind für die Bürger oft nur mittelbar zu spüren.
    Vor allem aber gibt es keine europäische Öffentlichkeit. Die Place Lux ist eben keine moderne europäische Agora, kein Sinnbild
     für eine gemeinsame Öffentlichkeit von Helsinki bis Valletta. Sie ist vielmehr Schauplatz eines elitenhaften Jetset-Diskurses,
     der nicht über die Stadtgrenze hinausreicht. Jenseits von Brüssel ist und bleibt Europa fragmentiert in 27   Öffentlichkeiten. Sie alle kennen ihre Sprachen, ihre politischen Prominenten und ihre Themenwellen. Brüssel hat nichts ebenbürtiges
     Eigenes zu bieten. Im Bewusstsein der Bürger rangiert die EU deshalb unter Ausland – obwohl sie recht eigentlich zur Innenpolitik
     gehört. Diese Fehlwahrnehmung wird sich nur schwer ändern lassen. Da mögen E U-Beamte und ‑Abgeordnete noch so zweckoptimistisch von einem »Europa der Bürger« schwadronieren. Die politischen Welten, in denen
     die Bürger der Mitgliedstaaten leben, spiegeln sich in Brüssel allenfalls neblig und verzerrt wider.
    Eine Ursache dafür ist die Tatsache, dass die aus den Nationen gewohnten Färbungen der Parteien auf der europäischen Leinwand
     ein Mischbild ergeben, mit dem sich niemand recht identifizieren kann. Im Europäischen Parlament zwängen sich 165 nationale
     Parteigruppen in sieben Bündelfraktionen. Dabei knirscht es gewaltig. Die Mitte-Links-Partei in Schweden oder der Partido
     Social Democrata Portugals etwa sind viel kapitalistischer gesinnt als die Sozialdemokraten in Deutschland. Das Mitte-Rechts-Lager
     Frankreichs dagegen ist erheblich marktskeptischer als Spaniens Partido Popular. Ein mittlerer britischer Labour-Mann wäre
     gutaufgehoben in der CDU.   Ein Christsozialer aus Belgien oder Luxemburg würde sich hingegen in der SPD heimischer fühlen. Welche Werte, andererseits,
     verbinden die herrische Partei eines Silvio Berlusconi mit den Überzeugungen eines niederländischen Christdemokraten? Im Europaparlament
     sitzen sie trotz dieser teilweise weit auseinanderliegenden Koordinatenkreuze alle zusammen, in der »Progressiven Allianz
     der Sozialisten und Demokraten« oder in der »Europäischen Volkspartei«. Die Beschwörung einer gesamteuropäischen politischen
     Kultur ist, kurzum, politisches Voodoo.
     
    Den Eindruck, dass die Instanz EU irgendwo im Raume schwebt und ungreifbar bleibt, verdankt sie aber nicht zuletzt auch einem
     sehr profanen Grund. Es ist ihr Standort. Die Entscheidung, Brüssel (der Stadtname rührt übrigens aus dem Altniederländischen
     bruoc, Sumpf, und dem lateinischen sella, Sessel) zum Sitz der europäischen Institutionen zu machen, fiel Ende der 50er-Jahre.
     Ein Expertenkomitee der sechs Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) kam damals zu dem Schluss, Brüssel
     sei als Hauptstadt eines vereinten Europa wie geschaffen. Es sei eine aktive Metropole ohne große Verkehrsprobleme, und es
     liege an der Nahtstelle zweier großer Europäischer Kulturenräume, dem lateinischen und dem germanischen. Mit dem zweiten Aspekt
     sollten die
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