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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa!
Autoren: Jochen Bittner
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Experten recht behalten.
    Gewiss hatten die sechs Gründerstaaten die besten Absichten. Aber eine Hauptstadt, die im 19.   Jahrhundert ebenso künstlich zusammengezimmert wurde wie 1831 der belgische Staat selbst, und die ihre internationale Bekanntheit
     im Wesentlichen auf ein urinierendes Kleinkind (»Manneken Pis«), Pralinenmanufakturen und Comics stützt, taugt, zieht man
     nach 50   Jahren eine ehrliche Bilanz, nicht wirklich als Identifikationsort für das ehrgeizigste Projekt der europäischen Neuzeit.
     Man stelle sich vor, das Hauptquartier der Vereinten Nationen stünde nicht in New York, sondern in Milwaukee. Der Respekt
     vor der Weltorganisation fiele noch ätherischer aus, als dies ohnehin schon der Fall ist. »Brüs sel « steht heute für kaum etwas anderes als für das Synonym des europäischen Apparates. Nicht die Stadt hat der EU ein Gesicht
     gegeben, sondern die EU der Stadt. Das ist fatal, denn es verstärkt den Eindruck von der fehlenden Verankerung des Europaapparates
     im wirklichen Leben.
     
    Zur Zweitklassigkeit der Standortes Brüssels gesellt sich ein einschläfernder Mangel an politischem Drama. Bürger erwarten
     von Politik ebenso wie von einem guten Buch oder Kinofilm vor allem eins: Konflikte. Ohne Konflikte kommt keine Spannung auf,
     und ohne Spannung entsteht kein Interesse. Streit ist, wenn er kultiviert geführt wird, die Lebensgrundlage für eine funktionierende
     Demokratie. Brüssel bietet von allen Zutaten, die das klassische Dialogdrama verlangt, keines. Es zeigt keine klaren Protagonisten
     oder Antagonisten. Es kennt keine Kämpfer und keine Helden, keine Trägodien und keine Komödien. Es zeigt keine Leidenschaften,
     keine menschlichen Höhen und keine Abstürze. Es lässt nicht einmal klare Verantwortliche auftreten, denen sich bestimmte Taten
     zurechnen ließen.
    »EU heißt Konsens, nicht Krawall«, lobt der ehemalige Präsident des Europäischen Parlamentes, Hans-Gert Pöttering, diesen
     Mangel. Der CD U-Mann aus Niedersachsen, der sich während seiner Amtszeit selbst gern zum Mr.   Europe stilisierte, verkörperte wie vielleicht kein anderer die erstickende Harmonie der Brüsseler Käseglocke. Seine Reden
     versprühten so viel Esprit wie eine Pommesbude, und in roboterhafter Manier gab Pöttering Bekenntnisse von sich wie: »Natürlich
     lehne ich eine Haltung ab, die sich gegen die europäische Einigung stellt.« Dass derart zwanghafte Werbeträger der Euro-Wellness
     beim Bürger eher den Eindruck von Bekehrungsversuchen einer Sekte als ehrlich gemeinter Sachauseinandersetzungen erwecken,
     ist kein Wunder. Doch selbst wenn man den pötteringschen Überlegenheitsdünkel aus der europäischen Politikdarbietung abzieht,
     läuft die EU in einem gänzlich anderen Betriebmodus als nationale Hauptstädte. Berlin, Paris oder London dröhnen wie Verbrennungsmotoren.
     Brüssel schnurrt wie ein Elektroantrieb.
     
    Damit wären wir bei einem Grundproblem für jeden Berichterstatter in Brüssel. Es lässt sich als 80   –   80   –   1 0-Formel beschreiben. Zwar mag es sein, dass 80   Prozent aller Gesetzgebung für die Länder Europas in Brüssel gemacht werden. Von diesen 80   Prozent aber sind wiederum 80   Prozent uninteressant, weil technisch und kleinteilig. »Achtzig Prozent der europäischen Normen sind technische Normen«, bestätigt
     der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im Europaparlament, Joseph Daul. Brüssel produziert im Großen und Ganzen die
     wahrscheinlich langweiligsten Gesetzeder Welt. Nach endgültiger Auswahl bleiben (großzügig geschätzt) vielleicht zehn Prozent Gesetzgebung übrig, die interessant
     genug sein könnten für ein breiteres Publikum. Aber auch sie leiden unter der beschriebenen Unklarheit von Akteuren und Abläufen.
    Auf Europas Einigungsgeschichte, besonders auf die der vergangenen 20   Jahre, mögen die Europäer mit Stolz zurückblicken. Der Betriebsalltag der EU hingegen ist kein bisschen herzerwärmend. Selbst
     wenn Kommission und Parlament glänzende Arbeit im Geiste der europäischen Verträge leisten, führt dies nicht zu einer gesteigerten
     Anerkennung des Brüsseler Harmonisierungsapparats. Warum sollten sich die Bürger für eine funktionierende politische Serviceleistung
     mit mehr Leidenschaft interessieren als etwa für das tägliche Wirken einer Stadtverwaltung? Oder, wie Joseph Daul es formuliert:
     »Wenn wir die Abgaswerte von Autos regeln müssen, ist dann ist das doch keine Frage
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