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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
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wuchsen kontinuierlich, fast
     drei Viertel der Isländer arbeiteten im Dienstleistungsgewerbe. Bis zum Jahr 2008 – dem Jahr, in dem die Blase platzte. Praktisch
     über Nacht brach die Geldumwälzpumpe Island zusammen. Alle drei Banken der Insel mussten verstaatlicht werden. Die Arbeitslosigkeit
     schnellte binnen Jahresfrist von zwei auf zehn, die Inflation auf knapp zwanzig Prozent empor. Im
annus horribilis
der isländischen Geschichte gingen jeden Tag im Schnitt drei Firmen Pleite. Zugleich halbierte sich der Wert der einst hochgehandelten
     isländischen Krone. Der Kurs geriet derart in den Fall, dass, wer im Frühjahr 2009 nach Island reisen wollte, bei europäischen
     Banken keine Kronen bekommen konnte. Die Währung der Isländer ist, schlicht gesagt, zerstoben.
    Um sich zu retten, trug die Regierung in Reykjavik zunächst Norwegen den Vorschlag einer Währungsunion an. Die dortige Staatskanzlei
     lehnte das Ansinnen dankend ab. Die AnkerwährungDollar indes ist für ein Land, das 80   Prozent seines Außenhandels mit Europa betreibt, keine ernsthafte Option. Immer mehr hartgesottene E U-Gegner auf der Insel gelangten im Verlauf der Krise zu der ernüchternden Einsicht, dass die Zukunft entweder Brüssel heißt oder
     Niflheim – wie die lebenserstickende Eiswelt der Sagas.
    Bis zum 26.   April 2009, dem Tag der alles verändernden Neuwahlen, hatte es auf der Insel nie eine Mehrheit für einen E U-Beitritt gegeben. Dann setzten Ereignisse ein, die als Küchengerät-Revolution in die Geschichte des Landes eingehen könnten. Im Januar
     2009 zogen Tausende Isländer eine Woche lang mit Töpfen und Pfannen vor den Regierungssitz, um Neuwahlen herbeizutrommeln.
     Für die große Mehrheit der Bevölkerung stand fest, dass die regierende konservative Partei den Absturz des Landes durch eine
     Laissez-faire-Politik gegenüber den Banken heraufbeschworen und beim Management der ›kreppa‹, der Krise, jämmerlich versagt
     hatte. Als beim abendlichen Kochlöffelschwingen Handgreiflichkeiten gegen Minister drohten und die Polizei zum ersten Mal
     seit den Protesten gegen den Natobeitritt Islands 1949   Tränengas einsetzen musste, sahen die Konservativen ein, dass es Zeit war zu gehen.
    Bei den anschließenden Wahlen zum Althing trugen die Sozialdemokraten zusammen mit den Linksgrünen einen deutlichen Sieg davon.
     Nach 18   Jahren ungebrochener Herrschaft der Brüssel-feindlichen Unabhängigkeitspartei suchten die Isländer die Wärme der EU.   Am 16.   Juli 2009 stimmte das Althing mit knapper Mehrheit dafür, Island solle ein Beitrittsgesuch an die Europäische Union richten.
     Der notwendige Papierkram war schnell erledigt. Schließlich gehört die Insel seit 1994 zum Europäischen Wirtschaftsraum. Island
     übernahm freiwillig die meisten E U-Binnenmarktregeln . Es ist Teil der Schengen-Reisezone. Es beteiligt sich sogar an E U-Sanktionen gegenüber Weißrussland, Serbien oder Simbabwe. Ende Juli 2009, als Schweden die E U-Ratspräsidentschaft innehatte, überreichte der Sozialdemokrat Össur Skarphédinsson seinem Stockholmer Amtskollegen Carl Bildt den Aufnahmeantrag
     seines Landes. Bis 2013 könnte Island das 28.   Mitglied der Europäischen Union sein. Über die Aufnahme in den Euroraum freilich kann erst später verhandelt werden. Island
     ist bis auf Weiteres in einer Weise verschuldet, die den Konvergenzkriterien der Gemeinschaftswährung hohnspricht. »DasAnsinnen, der Eurozone beizutreten, würde hier vorerst nur schallendes Gelächter auslösen«, garantiert ein Brüsseler Diplomat.
    Doch die Währungsfrage ausgeklammert, spricht aus Brüsseler Sicht rein gar nichts dagegen, die EU atlantisch abzurunden. Im
     Gegenteil, es wäre ein erfreuliches Signal für die Union. Island zählt gerade einmal 320.000   Einwohner, etwa so viele wie Karlsruhe. Für die verhältnismäßig geringe Kraftanstrengung seiner Einbindung bekäme die EU den
     schmeichelnden Beweis geliefert, wie attraktiv die Atmosphäre und die Hausordnung ihres Zivilisationsclubs selbst für ein
     hochentwickeltes Land sind.
     
    Besitzt die EU tatsächlich eine Attraktivität jenseits ihrer Garantieleistung als wirtschaftlicher Schutz- und Schicksalsraum?
     Island muss sich und der Welt nicht beweisen, dass es zum Westen gehört. Es verspürt, anders als die Ex-Vasallen der Sowjetunion,
     kein Bedürfnis, sich politisch zu verbünden, kulturell anzuschließen oder ein dauerhaftes Wohlstandsgefälle einzuebnen. Der
    

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