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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
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seine Anhänger den wegen Körperverletzung vorbestraften Janukowitsch nennen, den Modernisierungskurs
     der Ukraine fortführen. Doch anders als seinen orangen Vorgänger möchte der neue Präsident eine Äquidistanz halten zwischen
     Brüssel und Moskau. Er strebe, sagte Janukowitsch nach seiner Wahl, »ein balanciertes Verhältnis zu Russland und zu Europa«
     aufzubauen. Die Beziehungen müssten geprägt sein von »beiderseitigen Vorteilen«. Dazu gehörten auch Verhandlungen mit Brüssel
     über ein Assoziationsabkommen zur Förderung des Freihandels und über Visaerleichterungen fortzuführen.
     
    Ist eben dies nicht ein vernünftiger Weg? Das »Modell Norwegen« nennen Diplomaten die Option, sich der Europäischen Union
     nur so weit wie nötig und möglich durch pragmatische Kooperation anzunähern. Wenn die öffentliche Meinung in der Frage eines
     E U-Beitritts gespalten ist und wenn schon die politische Klasse innerhalb einer Nation derart polarisiert wie in der Ukraine, wie soll
     ein solches Land dann erst Souveränität mit anderen Nationen teilen? Ist es gegenüber der EU in diesem Fall nicht klüger,
     zunächst einmal auf wirtschaftliche Osmose zu setzen statt auf vorschnelle Gemeinschaftspolitik? Die Ukraine könnte auf diese
     Weise ein Grenzland im besten Sinne werden – eben als »Brücke« zwischen Europa und Russland.
    Bedeutet dies andererseits, dass all die Avancen, die Flaggenwedelei und der wiederentdeckte Historismus enttäuschte Liebesmüh
     waren? Nicht unbedingt. Es mögen keine romantischen Bande sein, die Kiew und Brüssel bis auf Weiteres knüpfen. Aberwas spricht gegen eine solide Freundschaft? Wie im wahren Leben gilt schließlich auch zwischen Staaten: Man lernt voneinander,
     man profitiert voneinander, man wächst aneinander. Eine solche nüchterne Beziehung kann am Ende die tragfähigere Bindung ergeben
     als Schwärmerei und Verklärung. Eine Leitlinie für eine angemessene Partnerschaftspolitik könnte die Erkenntnis des amerikanischen
     Intellektuellen Martin Walker bieten. »Das Zeitalter der Geopolitik«, schreibt er, »ist einem Zeitalter gewichen, das man
     das Zeitalter der Geoökonomie nennen könnte.« 9 Bündnisse, mit anderen Worten, entstehen nicht mehr aufgrund von Ideologien, sondern entlang von Wirtschaftsinteressen.
     
    Doch selbst gegenüber derlei Zweckehen hat die EU Skrupel. Gemeinsame Werte und Ideen, fordert sie, müssen doch wohl sein
     in einer Partnerschaft! Ein gewichtiger potenzieller Bündnispartner droht ihr deswegen verloren zu gehen. Die Türkei ist immer
     noch ein in weiten Teilen agrarisch geprägtes und infrastrukturell unterentwickeltes Land und auch ihre politische Kultur
     mag bisweilen rückständig erscheinen. Aber ihre Wirtschaft ist auch die am schnellsten wachsende Europas. 10 Langfristig gilt es zu entscheiden: Will die EU ihrem wirtschaftlichen Machtblock einen boomenden, aufstrebenden Markt von
     70   Millionen Menschen hinzufügen, der noch dazu eine Handelsbrücke in die wohlhabenden Golfstaaten schlagen könnte? Oder will
     sie die Türkei an einen nahöstlichen ökonomischen Bund mit eigenen Regeln und Interessen verlieren?
    Immer mehr Türken auf Entscheiderplätzen fragen sich, warum ihr Land den Klimmzug der Anpassung ans E U-Recht leisten soll, wenn die Regierungen in Paris und Berlin sie ohnehin nicht aufnehmen wollen. Denn selbst wenn die Türkei morgen
     alle wirtschaftlichen und rechtlichen Aufnahmekriterien erfüllen würde – es bliebe ihr der »Makel«, ein muslimischer Staat
     zu sein. »Die Türkei ist keine europäische Zivilisation!«, versuchte Nicolas Sarkozy 2008 mit Nachdruck einem britischen T V-Journalisten klarzumachen. Er werde einem E U-Beitritt nicht zustimmen, denn das Land liege in Kleinasien. »Wieso fragen Sie mich das überhaupt?«, empörte sich der französische
     Staatschef gegenüber dem verblüfften Reporter. 11 Historisch ist eher richtig, dass Europa schon immer größer war als das Christentum und dass der Islam darin mal mehr und
     mal weniger Raum einnahm.
    Eine statistische Untersuchung der Freien Universität Berlin ergab Mitte 2008, dass es nur in vier E U-Ländern (Rumänien, Bulgarien, Portugal und Schweden) eine Mehrheit für einen Beitritt der Türkei gab. In allen anderen Ländern lag
     die Zustimmung bei unter 50   Prozent, in Frankreich bei 24,6, in Deutschland bei 17,1 und in Österreich gar nur bei 5,6   Prozent. Empirisch zeige sich, so die Verfasser der Studie, dass

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