So nicht, Europa!
der Bürgerkriege und des Chaos wäre ein Desaster für die gesamte Welt.«
China könne nur
mit
der Partei reformiert werden, nicht
gegen
sie. Das freilich haben die Sowjetherrscher bis 1989 auch immer behauptet.
Aber betrachten die Europäer, wenn sie ehrlich sind, die Entwicklung Chinas möglicherweise noch aus einem anderen Grund mit
Sorge als allein wegen der Behandlung von Andersdenkenden? Chinas rasanter Aufstieg, seine autoritäre Modernisierung, scheinen
zu zeigen, dass wirtschaftlicher Erfolg und wachsende soziale Zufriedenheit auch ohne Demokratie möglich sind. Beijings Wolkenkratzer
und glitzernde Olympiabauten verursachen im westlichen Denkschema eine schwindelerregende Bildstörung. Wenn Reichtum, technischer
Fortschritt und Innovation auch in einer Diktatur möglich sind, wenn sie dort noch dazu rasanter und effizienter vonstattengehen
als in Demokratien, was ist denn dann eigentlich der globale Wettbewerbsvorteil von freiheitlich-westlichen Systemen?
Song Zhe schmunzelt. Er war unlängst in Afrika. Dort sei ihm etwas aufgefallen. »Im Kongo werden gerade zwei Überlandstraßen
gebaut, eine von den Europäern, eine von uns. Obwohl wir später angefangen haben als die Europäer, war unsere Straße als Erste
fertig. Und sie hat auch noch weniger gekostet.« Chinesische Arbeiter verlangen eben nicht, dass man sie abends ins Hotel
fährt. Sie schlafen gleich neben der Baustelle. Statt für übertriebene Gewerkschaftsforderung zu bezahlen, so Song, habe China
das Geld in Schweiß und Teer gesteckt. Von wessen Hilfe hätten die Afrikaner am Ende wohl mehr profitiert?
Sollte sich das Modell des Aufstiegs durch Diktat fortsetzen, droht dies nicht weniger als die geistige Identität Europas
zu erschüttern. Ihr Kernsatz lautet nämlich, dass Demokratien mehr soziale Zufriedenheit stiften können als Diktaturen. Auch
in Europa ist die Einsicht gereift, dass die schwerfälligen Demokratien der Nationalstaaten nicht mehr die angemessenen Karosserien
für die Geschwindigkeiten des 21. Jahrhunderts darstellen. Eben deswegen, um die schlimmsten Bremsen des alten Kontinents zu lösen, haben sich Europas Staaten
schließlich zur EU vernetzt. Und sich, um noch mehr Fahrt zu gewinnen, den Lissabon-Vertrag gegeben.
Die Entwicklungen in Europa und in China werfen eine große gemeinsame Frage auf. Sie lautet, ob die Notwendigkeit, in einer
sich beschleunigenden Weltwirtschaft Schritt zu halten, nicht auf beiden Seiten des Planeten zu einer Neujustierung des Verhältnisses
zwischen politischer Effizienz und demokratischer Mitbestimmung führen muss. Die Europäer haben dabei, gemessenam Status quo, Freiheit zu verlieren. Die Bürger Chinas dagegen haben, aus der totalen Bevormundung kommend, Emanzipation
zu gewinnen.
Nähern sich die politischen Systeme Europas und Chinas, wenn auch aus entgegengesetzten Richtungen, also letztlich einander
an? Steuern Post-Demokratie hier und Post-Kommunismus dort am Ende gar auf eine verwandtschaftliche Form des politischen Massenmanagements
hin? Auf eine effiziente Führung durch wohlmeinende, im Wissen vermeintlich überlegene Kader?
Eine Zeitlang mag es Peking möglich sein, Kapitalismus ohne politische Liberalisierung anzubieten. Kapitalismus ohne
gesellschaftliche
Liberalisierung allerdings ist auf Dauer nicht denkbar. Spricht man mit jungen chinesischen Parteimitgliedern, dann scheint
es schon heute so, als stünde das »K« im Kürzel der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) so wenig für Kommunismus wie das
»C« in CDU für Christentum. In China scheint durch die Marktkräfte eine Entwicklung in Gang gesetzt, die zwangsläufig zu mehr
Mündigkeit des Einzelnen führen muss. Denn die Möglichkeit, Eigentum anzusammeln, entfaltet eine freiheitsstiftende Wirkung.
»Das Selbst eines Menschen ist die Gesamtsumme all dessen, was er sein nennt, nicht nur sein Körper und seine psychischen
Kräfte, sondern auch seine Kleidung und sein Haus, seine Frau und seine Kinder, seine Vorfahren und Freunde, sein Ruf und
seine Arbeit, sein Land, seine Yacht und sein Bankkonto«, wusste schon im 19. Jahrhundert der Psychologe und Philosoph William James. 13 Wer mehr hat, wer mehr darstellt, wird auch mehr zu sagen haben wollen. Auf diese Weise führt gesellschaftliche Liberalisierung
zu politischem Mitbestimmungswillen. »Auch Diktaturen«, warnt augenzwinkernd der amerikanische Historiker Philip Nord, »wünschen
sich Wachstum,
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