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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
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bleibt fraglich, ob sich das Parlament wegen dieses Widerstands schon zum ernst zu nehmenden Demokratiegaranten entwickelt
     hat. Denn das Motiv für das Nein war auch, wenn nicht vor allem, Selbstbehauptung und erst danach Bürgerrechtsschutz. Und:
     Das Stoppschild galt keinem EU-eigenen Projekt, sondern amerikanischer Datenfängerei. Bei anderen Gelegenheiten, bei denen
     diese beiden Motive fehlten, hat sich das Parlament weniger ins Zeug gelegt, um Regierungsexzesse zu stoppen. Der Einführung
     des biometrischen Passes etwa, 2004 durch den Antiterror-Minister Otto Schily sehr bewusst nicht über den Bundestag, sondern
     über die Brüsseler Bande gespielt, stimmte das Parlament mit 471 zu 118Stimmen zu, inklusive der deutschen Vorzeigeliberalen Silvana Koch-Mehrin. Ein Jahr später stimmte das Parlament ebenfalls
     mit großer Mehrheit der Richtlinie zur Handy-Vorratsdatenspeicherung zu, und das obwohl sie offenkundig auf einer unzulässigen
     Rechtsgrundlage basierte. Nach Massenklagen aus der Bevölkerung erklärte das Bundesverfassungsgericht das deutsche Umsetzungsgesetz
     Anfang 2010 für nichtig.
    Spricht man Europaabgeordnete auf diese Bilanz an, entgegnen sie, in den länderübergreifenden Bündelfraktionen seien nun einmal
     Kompromisse notwendig. Um unliebsame Ideen der Kommission zu kippen, muss das Parlament eine hohe Hürde überwinden. Es kann
     nur dann ein Veto durchsetzen, wenn es eine absolute Mehrheit aufbringt. Es reicht also nicht aus, wenn alle gerade
anwesenden
Abgeordneten einem Gesetzesvorschlag widersprechen. Die Mehrheit aller 736   Mitglieder muss im Plenum Nein sagen.
    In der Praxis führt dieses Erfordernis zu einer offen gepflegten Zusammenarbeit der beiden großen Fraktionen, der Europäischen
     Volkspartei (EVP) und den Sozialdemokraten (S&D). »Es gibt hier den institutionalisierten Zwang zum Kompromiss«,
     sagt Werner Langen, ein Abgeordneter der EVP.   Die Folge: »Man duzt sich«, auch politisch. Anders gesagt: Das Europaparlament bildet kaum eine innere Opposition aus, sondern
     es tritt vor allem als geschlossene Opposition nach außen auf.
     
    Im Falle der Lebensgeschichte von Daniel Cohn-Bendit wirkt diese Harmonie regelrecht disharmonisch. Von der außerparlamentarischen
     Opposition hat ihn sein Weg in ein oppositionsloses Parlament geführt. Im Plenarsaal angekommen, versinkt er meist entweder
     in der ›taz‹-Lektüre oder bespricht sich mit Kollegen, während um ihn herum das Händegepaddel der Abstimmungen die Saalluft
     aufwühlt. »Dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Angenommen«, schallt es in einer Endlosschleife vom Präsidiumspult. Cohn-Bendit
     stimmt nur mit, wenn er gerade nichts anderes zu tun hat.
    Als »Corporate Identity« beschreibt der deutsche Sozialdemokrat Jo Leinen die Stimmung, die im Haus oft herrsche. Leinen,
     Saarländer, Jahrgang 1948, ist ein überzeugter Europäer alter Schule. Schon 1972 ging er zum Studieren ans Europa-Kolleg in
     Brügge, die Kaderschmiede der Eurokraten. Nach 14   Jahren im Saarbrücker Landtag wurde er 1999 ins Europaparlament gewähltund kümmerte sich dort unter anderem um Grundsatzfragen europäischer Verfasstheit. Leinen hebt ausdrücklich den Unterschied
     zwischen dem Europaparlament im Vergleich zu den »Konkur renzdemokratien « der nationalen Parlamente hervor. Das EP teile sich nicht in Regierungsfraktion und Gegenlager auf, sondern stehe vereint
     gegen 27 nationale Regierungen, denen – so sieht es Leinen – das große europäische Ganze oft noch nicht klar genug sei. »Wir
     haben hier deswegen weniger Opposition, weil wir uns an den Sachthemen abarbeiten«, glaubt er. Im Laufe der Jahre ist Leinen
     davon überzeugt worden, dass die 27   Völker der EU dieselben Werte und Ziele teilten. »Menschen unterschiedlicher politischer Couleur können durchaus dieselben
     Ansichten haben«, habe er gelernt. Die nationalen Parlamente hingegen bildeten oft Interessengegensätze ab, die die Bürger
     gar nicht teilten. Das Europaparlament meide überflüssigen Streit. Einen zusätzlichen Kitt zwischen den großen Fraktionen
     bilde »der Schulterschluss gegen das Lager der Antieuropäer«.
     
    Man könnte diese Konsensdemokratie als fortschrittlich loben. Man könnte aber auch sagen, dass sie auf das wünschenswert kontroverse
     Wesen von Politik wirkt wie ein Feuerlöscher. Und dass sie die Gefahr birgt, Querdenker als Abweichler zu stigmatisieren.
     Eines ist diese politische Betriebsform auf

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