So nicht, Europa!
Antwort: »Weil es im europäischen Rahmen schwierig ist, den anderen hartzu kritisieren.« Es herrschte, in den Worten Jouyets, »eine Kultur der Mauschelei«. Im Frühjahr 2010 zahlte Europa dafür die
Zeche. Ein gutes Jahrzehnt nachdem sie ins Leben gerufen wurde, stellte sich heraus, dass die europäische Währungsunion nicht
funktionierte, sondern fehlfunktionierte. Sie war einfach nicht das, was sie von Anbeginn auch hätte sein müssen: eine Wahrheitsunion.
Damit sollte von nun an Schluss sein, nahm sich die Bundesregierung vor. In einer Art offenem Brief an seine europäischen
Kollegen forderte Finanzminister Wolfgang Schäuble im März 2010 in der ›Financial Times‹ schärfere Aufsicht über die Budgets
der Mitgliedstaaten und spürbare Sanktionen, falls sie ihre Defizite nicht abbauten, beispielsweise das Einfrieren von Strukturfonds.
Vor allem forderte der Deutsche eine Änderung der Verträge, und zwar in einem grundlegenden Punkt. »Sollte sich ein Eurozonen-Mitglied
letztlich als nicht in der Lage erweisen, seinen Haushalt zu konsolidieren oder seine Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen,
sollte dieses Land, als Mittel der letzten Wahl, die Währungsunion verlassen.« Eine Rausschmiss-Option aus der Gemeinschaftswährung,
vorgebracht von Deutschland – das kam einem Paradigmenwechsel in der Europapolitik nahe. Deutschland beugte sich nicht mehr
unter seine historische Integrationsverantwortung, sondern fragte selbstbewusst nach dem realpolitischen Nutzen, für einen
strauchelnden Euro-Partner die Vertragstreue zu opfern.
Die unsentimentale Haltung der »Eisernen Angela« löste Stirnrunzeln in Rest-Europa aus. Mehr noch: Zwischen Frankreich und
Deutschland entspann sich im Frühjahr 2010 ein regelrechter »Stellvertreterkrieg« für die widerstreitenden europäischen Länderlager.
Sollte Griechenland nun Finanzhilfen gewährt werden, ja oder nein? Nur als allerletztes Mittel und nur nach einer Änderung
der europäischen Verträge!, lautete die (grob gesprochen) nordeuropäische Position. Was soll die Beckmesserei, beharrten dagegen
die romanischen Staaten, es geht schließlich um eine Schicksalsgemeinschaft! Oder, in den Worten der Französin Lagarde: »Es
kann nicht einfach nur darum gehen, die Defizitkriterien umzusetzen.« Die luxemburgische E U-Innenkommissarin Viviane Reding erinnerte die Kanzlerin daran, dass alle anderen Europäer gezahlt hätten, um die deutsche Wiedervereinigung
zu ermöglichen. Jetzt sei es an den Deutschen, sich solidarisch zu zeigen. »Angela, ein bisschen Mut!«, rief sie ihr zu. 51 »Das VerhaltenBerlins ist ökonomischer Nationalismus«, erregte sich die polnische Tageszeitung ›Dziennik Gazeta Prawna
‹ ,
»eine Mine, gelegt auch gegen die europäische Integration.«
Für einen kurzen Moment schienen protestantisches Leistungsethos und katholische Vergebungskultur fast explosiv aufeinanderzutreffen.
Während die einen Europäer der Meinung waren, man sei in der Vergangenheit viel zu freundlich miteinander umgegangen, bestanden
die anderen darauf, jetzt in der Krise müsse man gefälligst erst recht freundlich zueinander sein. Hinter den Kulissen habe
es »kontroverse und harte Diskussionen« gegeben, berichtet ein deutsches Regierungsmitglied.
Europa erschien in diesen Tagen wie ein schwankendes Boot in der Mitte eines Flusses. An welches Ufer sollte es sich retten?
Nach vorne – oder zurück? Letztlich entschied sich diese Frage nicht in Regierungsetagen, sondern auf den Börsenparketts.
Im April und Mai 2010 spitzte sich die Lage derart zu, dass keine Zeit blieb, um, wie von den Deutschen gewünscht, die Baupläne
der Währungsunion zu überarbeiten. Binnen weniger Tage blickte erst Griechenland in den Abgrund. Wenig später sollte der gesamte
Euroraum auf der Kippe stehen.
Am 18. März ließ der griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou bei einem Treffen in Brüssel durchblicken, dass sein Staatshaushalt
noch bis Ostern durchhalten werde – danach brauche das Land mindestens 5 Milliarden Euro, um nicht bankrott zu gehen. Sollten die Euro-Staaten ihm nicht zur Hilfe kommen, so Papandreou, bleibe ihm
nichts anderes übrig, als den Internationalen Währungsfond um Unterstützung zu bitten. Zwischen Berlin und Paris brachen daraufhin
hektische Konsultationen aus. Was könne, was solle, was dürfe Europa jetzt tun? Am 25. März einigten sich die Staatschefs der Euroländer auf die
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