So nicht, Europa!
in einer gemeinsamen Gesellschaft verkaufen sie das Gas an den deutschen Kunden. Ebensolche Langfristverträge
haben Italiens Versorger ENI und Enel, Frankreichs Gaz de France und Hollands Gasunie mit Gazprom geschlossen. Diese Ausgangslage
liefert den Lobbyisten der Energieunternehmen starke Argumente gegenüber der Politik. »Eine Schwächung der deutschen Konzerne
im europäischenWettbewerb, zum Beispiel durch eine von Brüssel betriebene Zerschlagung, wollte das [Bundeswirtschafts-]Ministerium nicht
hinnehmen«, sagt ein Ex-Staatssekretär in Berlin. 64 Europa benimmt sich wie ein Mietshaus, in dem jede Partei einzeln den Öllaster bestellt, statt den Heizkessel gemeinschaftlich
zu füllen.
Je weiter man nach Osten reist, desto resignierter schauen Politiker auf die zerrissene Union. »Eine europäische Stimme wird
es nicht geben«, lautet die düstere Vorhersage der polnische Europaabgeordneten und Energieexpertin Ursula Gacek. »Dazu sind
die nationalen Interessen einfach zu zählebig.« Bolat Aktschulatow, der stellvertretende Energieminister von Kasachstan, stimmt
ihr in spöttischem Ton zu: »Ich treffe nie mit europäischen Firmenvertretern zusammen, die sich europäisch nennen. Sie sind
immer britisch, französisch, holländisch oder was auch immer.« 65 Gegen dieses Parzellendenken ist die E U-Kommission machtlos. Die Beamten in Brüssel, auch der neue deutsche Energiekommissar Günther Oettinger, warnen, entwerfen »Energieaktionspläne«,
werben emsig für einen integrierten Binnenmarkt. Aber das war’s dann auch schon. Denn in den Zuständigkeitsakten der EU wird
Energiepolitik als Außenpolitik geführt. Und über die wacht eifersüchtig jeder Einzelstaat. Den Russen gefällt’s. Konstantin
Kosachev, Präsident des Auswärtigen Ausschusses der russischen Druma, bekennt, einige seiner Kollegen hätten ohnehin »nicht
die geringste Lust, mit Brüsseler Bürokraten zu verhandeln. Gegenüber Deutschland, Italien und Frankreich können wir viel
mehr erreichen«. 66
Zwar enthält der Lissabon-Vertrag eine »Energiesolidaritäts klausel « für alle 27 Mitgliedsländer, doch die entfaltet keine bindende Wirkung. Um Energiesolidarität in Europa Wirklichkeit werden zu lassen,
bräuchte es neben dem Ende nationaler Eigenbrötlerei vor allem eines: neue Pipelines
innerhalb
der EU. Bisher könnte Westeuropa im Ernstfall kein Erdgas nach Osteuropa schaffen. Die bestehenden Pipelines sind Einbahnstraßen in
die entgegengesetzte Richtung, sie funktionieren nur von Ost nach West. Verbindungen, um den Nachbarn zu helfen, sind weder
vorhanden noch geplant. Im Gegenteil, die Bundesregierung unter Gerhard Schröder lancierte mit der Nord-Stream-Pipeline eine
Direktverbindung von Russland nach Deutschland. Erklärtes Ziel der Röhre ist es, politisch unsichere osteuropäische Transferländern
zu umgehen.
All das lässt eine langfristige Gefahr noch völlig außer Acht. Was passiert eigentlich, wenn Russland den energiehungrigen
Nachbarn China als neuen Großkunden erschließt? Sollte Moskau seine Hauptlieferrichtung von West auf Ost drehen, würden Europas
Gasnadeln ganz schnell nach unten zeigen. »Das Argument, dass die Russen uns schon weiter beliefern werden, ist ein historisches
Argument«, mahnt ein hoher Beamter im Europäischen Rat. »Es bietet keine Garantie für die Zukunft.« In fünf bis zehn Jahren,
glaubt der Mann, könnte Russland seine Exporte nach China bereits beträchtlich ausgedehnt haben. »Diese Zeit müssten wir eigentlich
nutzen, um uns vorzubereiten.« Schon längst drängt die chinesische Regierung den Kreml, eine direkte Pipeline nach Daqing
in der Provinz Heilonjiang zu bauen. Doch die Russen wollen im Fernen Osten offenbar dieselbe Taktik anwenden wie gegenüber
Europa; sie planen eine Röhre nördlich am Baikalsee entlang Richtung Japanisches Meer, die nicht über chinesisches Hoheitsgebiet
verläuft. Auf diese Weise können sie nicht nur China, sondern auch Japan und Korea versorgen. 67
Es gibt ein Zauberwort, das die Befreiung Europas aus der russischen Machtstellung bewirken soll. Es lautet Nabucco, benannt
nach der Verdi-Oper, deren berühmteste Passage der Gefangenenchor ist. So heißt das Pipeline-Projekt, das die E U-Kommission seit Jahren anpreist. Mit der Röhre soll die EU einen Bypass um Russland legen. Nabucco soll über 3300 Kilometer vom Kaspischen Meer über die Türkei nach Österreich verlaufen und
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