So schoen und kalt und tot
war dunkel. Ein unangenehmer Geruch nach Moder weckte sie. Mühsam öffnete sie die Augen. Es war noch immer dunkel. Erst nach einer Weile konnte sie ihre Umgebung in schwachen Umrissen erkennen.
Sie befand sich in einem kleinen Raum, kein Fenster, nur eine kleine Öffnung, gerade so groß wie ein Mauerstein. Schwaches Licht dran herein, es musste Tag sein. Dennoch reichte das bisschen Helligkeit nicht aus, um mehr als nur Konturen wahrnehmen zu können.
Das Mädchen versuchte, sich aufzurichten. Ein stechender Schmerz fuhr ihr durch den Kopf und den Nacken. Mit einem Schmerzenslaut fiel sie wieder auf die harte Unterlage zurück.
Schwere Schritte näherten sich der Tür, ein Schlüssel wurde herumgedreht. Zum Türspalt fiel helles Licht in den Raum. Ein Mann, hochgewachsen und auffallend schmal, betrat den spartanisch eingerichteten Raum. Forschende Blicke trafen sie.
„Bist du endlich wach?“, fragte eine harte, unfreundliche Männerstimme. „Wird auch höchste Zeit. Magst du etwas essen?“
Das Mädchen verneinte.
„Wie heißt du?“
„Alanis.“
„Ah, dann hat dir der Schlag auf den Kopf also nicht geschadet.“ Ein meckerndes Lachen zerschnitt die Stille des Raumes. „Und wie weiter?“
„Alanis Barton.“ Ängstlich wich das Mädchen bis an den äußersten Rand des Lagers zurück, das nur aus einfachem Holz und einer alten Decke bestand. „Was wollen Sie von mir? Ich hab Ihnen nichts getan.“
„Du nicht, aber deine Mutter.“ Wieder lachte der Fremde. „Ihr kommt einfach so daher, gnadenlos, und wollt mir alles nehmen, was mir noch geblieben ist. Aber das lasse ich mit mir nicht machen. Nicht mit mir. Ihr werdet sterben, alle beide.“
„Warum sterben? Ich bin ein Kind. Wer sind Sie?“ Hilfesuchend schaute sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Aber es gab keine. Nur diese eine Türe und vor der stand der Fremde.
„Ihr hättet in London bleiben sollen. Leider habe ich die arme Mrs. Mansfield fälschlicherweise umgebracht. Sie konnte nichts dafür.“ Sein Kichern war unerträglich.
Alanis merkte mit Entsetzen, dass sie es wohl mit einem Irren zu tun hatte. Bei ihm würde sie nicht auf Gnade oder Vernunft hoffen dürfen, davon war sie überzeugt. Sie hatte nur noch eine Chance, die, dass ihre Schwester nach ihr suchte und sie rechtzeitig fand. Doch wie sollte das geschehen? Niemand wusste, was passiert war. Und Benjamin konnte auch nichts anderes erzählen außer, dass sie einfach vom Friedhof weg verschwunden war.
„Ich bin auf Glannagan Castle.“
„Wie klug du bist.“ Der Mann trat ganz dicht zu ihr heran. „Was weißt du denn sonst noch?“
„Sie haben die Frau umgebracht.“
„Das habe ich dir doch eben selbst erzählt. Die arme Mrs. Mansfield, ich hätte ihr noch viele Jahre schönen Lebens gegönnt. Aber es sollte nicht sein. Ich dachte, sie wäre Melanie Barton. Habe euch ja selbst eingeladen, damit ich euch unter Aufsicht habe und ihr mir nicht schaden könnt.“
„Sie haben Melanie den Vertrag geschickt von einer Schule, die es gar nicht gibt?“ Wie Schuppen fiel es Alanis jetzt von den Augen. Die Erkenntnis, einem Betrüger aufgesessen zu sein, brachte sie fast zur Verzweiflung. Melanie hatte sich ohnehin gewundert, als sie diesen formlosen Arbeitsvertrag bekommen hatte von einer Schule, deren Namen sie noch nie gehört hatte. Aber dann dachten sie, dass es schon seine Richtigkeit haben würde.
Wie blind und vertrauensselig waren sie doch gewesen. Aber das war nur der großen Trauer zuzuschreiben, die nach dem Tod der Mutter ihre Vorsicht blockiert hatte.
„Was mache ich jetzt mit dir, Mädchen?“ Er grinste. „Du siehst ganz anders aus als deine Schwester. Wie kommt das?“
„Wir haben nicht dieselbe Mutter.“ Alanis kauerte auf der harten Unterlage. Jeder Knochen tat ihr weh und sie hatte ihr Zeitgefühl vollkommen verloren. „Wie lange bin ich schon hier?“
Der Mann starrte sie entsetzt an. „Was sagst du da? Ich hab dich wohl nicht richtig verstanden. Ihr habt verschiedene Mütter?“ Sein Grinsen war in dem schmalen Gesicht eingefroren. „Red schon, sonst…“ Er hob die Hand, als ob er sie schlagen wollte.
Alanis wich noch ein Stück zurück, bis sie die kalte Wand an ihrem Rücken spüren konnte. Weiter ging es nicht mehr. Sie war hilflos gefangen, ausgeliefert einem Menschen, dem man die Bestie in den Augen ansehen
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