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So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition)

So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition)

Titel: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Schlingensief
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Toten auferstehen, dann werde ich in Nichts vergehen« – das sind Sätze, das sind Sprüche. Mehr ist das nicht.

    Das habe ich heute gelernt. Ich behaupte mal, jeder Mensch hat in sich selbst eine Schwelle, die er nicht übertreten sollte. Und bei jedem Menschen ist sie anders konstruiert. Der eine hat eine dicke Schicht, der andere hat eine dünne, bei dem einen ist sie höher, bei dem anderen niedriger. Wenn er anfängt, diese grundsätzliche Eigenart seiner Person durch irgendwelche Dinge zu belasten, seine Grundsätze aufzugeben – und damit meine ich nicht, morgens unpünktlich aufzustehen oder so einen Schwachsinn, nein, damit meine ich, sich selbst in seiner Eigenliebe nicht mehr wahrzunehmen –, dann kann es sein, dass irgendetwas passiert ist. Muss nicht, kann aber.
    Ich glaube vor allem, dass die Wissenschaft keine Messmethode dafür finden wird, auch kein Krebsgen oder ich weiß nicht was. Sie wird sicher ihre Behandlungsmethoden verfeinern und verbessern. Das ist zweifelsohne klar, da werden hier und da noch Dinge gefunden, die man in den Menschen reinschütten kann. Aber mindestens genauso wichtig wäre, den Kranken dabei zu unterstützen, seine eigene Schwelle zu finden und zu beachten. Das ist genau der Punkt. Es geht um die Lebensqualität und Lebenszeit, die man hat und wie man die verbringt. Ich lasse den Dreck jetzt nicht mehr zu, denn ich habe noch viele Sachen vor. Ich sehe mich mit 67, mit 70, vielleicht nicht mit 80, aber ich sehe mich noch in einem gewissen Alter. Sogar mit Kindern sehe ich mich, ob die nun adoptiert sind oder nicht, und ich sehe vor allen Dingen Aino an meiner Seite und mich an ihrer Seite. Ich sehe ein Haus am See und ich sehe viele Arbeiten, die aber aus einer anderen Intuition heraus kommen, aus einer größeren Güte undWeichheit heraus. Das ist derWeg, den ich jetzt gehen will. Und ich werde diesenWeg gehen. Der Dreck ist raus, und alles, was da an Dreck meint, es müsste sich noch einmal einnisten, wird keinen Nährboden mehr finden, weil ich viel zu viele Dinge noch zu erleben habe.
    Mit ein bisschen Hilfe bin ich auch wirklich in der Lage dazu, dem Dreck diesen Nährboden zu entziehen. Das habe ich heute beim Abendessen gemerkt, da kam plötzlich wieder die Angst in den Raum. Es war wie ein Windstoß, wie ein eiskalter Nebel, der um die Ecke kommen wollte. Ich bin erst nervös geworden, bin wie ein Tiger hin und her gerannt, wollte kurz rausgehen, habe ganz schnell geatmet und auch ein bisschen geweint. Aber dann habe ich Aino meinen Kopf hingehalten, sie hat ihn ganz festgehalten und mir ins Ohr geflüstert: »Wir sind in einem Haus, an einem See.« In diesem Moment habe ich an die Güte und die Mütterlichkeit Marias gedacht, an die Figur, die für mich Wärme und Liebe ist. Ich fühle mich auch teilweise wie ein Kind, das sagt, die Mama soll kommen und die Mama soll einen festhalten und streicheln und alles wird gut. Plötzlich wurde der Atem ruhig, mir wurde warm, ich fuhr irgendwie runter, das ganze System fuhr runter und meine Angst hatte sich nach drei Minuten absolut erledigt. Sie war weg.
    Meine Güte, bestimmt denken manche Leute: Jetzt fängt der auch noch an zu spinnen. Aber ich habe es so empfunden. Und ich glaube, dass ich die Autosuggestivkraft, die ich besitze, auch positiv einsetzen kann. Ich bin ein Teil von dieser Natur, ich bin ein Teil von diesem Willen, wieder aufzublühen, und das werde ich auch. Ich werde aufblühen und ich werde noch viele Projekte machen, aber ohne dabei meine Selbstliebe und meine Liebe zum Leben aufzugeben. Ich darf diese Wunde, die ich jetzt habe, liebevoll umfassen, wenn ich mich einer anderenWunde nähere. Ich muss mir nicht dieWunden der anderen aneignen, das ist Quatsch, das ist Blödsinn.
    Ich weiß ab heute, wo es langgeht. Was ich im Moment konkret tun kann, ist langsam gehen. Langsam gehen, Bäume, Tiere, Kinder anschauen und Blödsinn machen beim Kaffee und Kuchenessen. Und dann wieder weitergehen. Und die Sonne spüren. Und kurz anhalten, atmen, langsam machen. Und wenn ich mal zu schnell bin, sage ich mir: Lass dir Zeit, Alter, die Entschleunigung hat begonnen. Das ist einfach, das ist ganz einfach. Ich werde zart mit mir umgehen und schauen, wie ich meine Ängste ein wenig regulieren kann. Aber im Nichts vergehen, das habe ich nicht vor, beim besten Willen nicht. Dazu habe ich noch viel zu viel Kontakt zu dieser Erde und zu den Gedanken, die da alle noch herumkreisen. Da gibt es noch so viel zu erzählen

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