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So still die Toten

So still die Toten

Titel: So still die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Burton
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an, und die plötzliche Helligkeit ließ sie zusammenfahren. Als sie wieder klar sehen konnte und ihrem Kidnapper in die Augen blickte, wusste sie, dass sie nie mehr aus diesem Keller herauskommen würde.
    Sie schrie.
    Leises Gemurmel erfüllte den Raum, als Angie sich auf den Klappstuhl aus Metall setzte. Wie ein Dutzend andere gehörte er zu einem Stuhlkreis im Souterrain einer Kirche, in der die Treffen der Anonymen Alkoholiker stattfanden. Angie nahm regelmäßig daran teil, weil sie anfangs so hilfreich gewesen waren und sie den Erfolg nicht aufs Spiel setzen wollte.
    Alle Anwesenden hatten etwas gemeinsam: Sie kämpften gegen eine Sucht an.
    Auch wenn Angie seit fast fünfzehn Monaten nichts getrunken hatte, hatte die Versuchung ihr in den letzten zwei Tagen schwer zugesetzt. Ihr war klar, dass die Ergebnisse der medizinischen Tests sie belasteten. Doch dahinter lauerten Sierras Tod und Lulus Verschwinden. Gab es etwas, das die Frauen gemeinsam hatten, abgesehen von ihrer Verbindung zu Angie? Übersah sie irgendetwas Entscheidendes, einen Schlüssel zur Lösung der beiden Fälle? Sie zerbrach sich den Kopf, fand aber keine Antwort. Da war nur dieser schreckliche Durst, der sie zur Kapitulation verführen wollte.
    »Angie.« Sara Waynes leise, sanfte Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
    Angie richtete sich auf und schlug die Beine übereinander, während ihr Blick zu der zierlichen Frau mit der elfenbeinfarbenen Haut und den Sommersprossen auf der leicht gebogenen Nase glitt. Sara konnte nicht älter als dreißig sein, doch in ihrem warmherzigen Blick lag eine Weisheit, die nicht auf akademische Verdienste, sondern auf Lebenserfahrung zurückging. »Es tut mir leid, ich war mit den Gedanken im Büro.«
    Falls Sara Angies Notlüge durchschaute, ließ sie es sich nicht anmerken. »Wir stellen uns gerade vor. Du bist dran.«
    Angies Blick wanderte über die Anwesenden. Da war Sandi, eine Schulbusfahrerin um die Sechzig, die zusammengeschlagen und vergewaltigt worden war und die trank, um zu vergessen; Denise, eine pummelige Zwanzigjährige mit rundem Gesicht, die ihre Eltern durch einen Unfall verloren hatte; Jason, ein dünner, nervöser Mann, der nur ein Mal den Mut aufgebracht hatte, darüber zu sprechen, wie er fast an einer Überdosis gestorben war; und Winnie, eine spindeldürre Frau, die gerne Rot trug und gegen ihre Crystal-Meth-Sucht ankämpfte.
    In dem Kreis saß ein neuer Mann, der zu Angies Überraschung den Platz neben ihr eingenommen hatte, während sie in Gedanken versunken gewesen war. Er musste sich so leise bewegt haben, dass er kaum einen Lufthauch verursacht hatte. Er war groß, hatte breite Schultern und trug ein blaues Hemd, ein Sportjackett und Baumwollhosen. Er machte einen gepflegten, ausgeglichenen Eindruck, und Angie konnte sich kaum vorstellen, dass er Probleme mit Drogen oder Alkohol hatte.
    Sie räusperte sich. »Ich heiße Angie. Seit vierhundertzweiundsiebzig Tagen habe ich nichts mehr getrunken.« Bei manchen der Treffen erwähnte sie, dass ihre Mutter sie verlassen hatte, als sie vier war. Bei anderen sprach sie über ihren Kampf gegen den Krebs, und bei wieder anderen über die Gefängnisstrafe ihrer Schwester. Aber dieses Mal ließ sie alles Persönliche weg. Sie hätte nicht sagen können, warum. Vielleicht hatte Kiers Warnung ihre Sinne in Alarmbereitschaft versetzt. Vielleicht war es die Anwesenheit des Neuen. Vielleicht war ihr auch einfach nicht danach. Es spielte keine Rolle, heute würde sie nichts erzählen.
    Sara wartete einen Moment und lächelte dann. »Herzlichen Glückwunsch, Angie. Das ist keine geringe Leistung.«
    Und Angie war stolz darauf. »Danke.«
    »Wir haben ein neues Mitglied«, sagte Sara.
    Neugierig drehte Angie den Kopf zur Seite und schaute den Mann neben sich an.
    Strahlend blaue Augen musterten sie mit einer Intensität, die sie gleichzeitig wärmte und frösteln ließ. Der Neue musste Ende fünfzig sein. Er hatte olivfarbene Haut, kleine Falten um die Augen, ergrauendes Haar, das ihm bis zum Kragen reichte, und ein ausgeprägtes Kinn. Er benutzte kein Aftershave, verströmte aber einen leichten Duft nach Seife.
    Beiläufig wanderte sein Blick von Angie zu Sara. Die eben noch kühlen Augen nahmen einen sanfteren Ausdruck an. »Ich heiße Robert. Wie Angie vor mir möchte ich keine Einzelheiten erzählen. Aber ich kann sagen, dass ich seit sechs Monaten und zwei Tagen nichts getrunken habe.«
    Roberts Stimme war ruhig und tief – die Stimme eines

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