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So unerreichbar nah

So unerreichbar nah

Titel: So unerreichbar nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marleen Reichenberg
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Stimme von Paul.
    »Du lieber
Himmel, Tessa. Geht´s dir gut?«
    Klar, es war
mir noch nie besser gegangen. Ich fiel gerne mal in voller Fahrt aufs Eis,
wurde ohnmächtig, verdrehte mir dabei das Bein, blutete wie ein angestochenes
Schwein und fühlte mich sauwohl dabei. Wo war er bis jetzt gewesen? Ich hatte
keine Ahnung, wie lange ich hier bewusstlos herumgelegen hatte. Als ich erwachte,
war ich von Wildfremden angestarrt worden wie ein versehentlich auf der Erde
gestrandeter Alien.
    Pauls Gesicht
erschien ganz kurz neben den Köpfen von Lucas und Lisa, dann fuhr er abrupt
zurück. Ich hörte ihn würgen.
    »Oh Gott, so
viel Blut. Ich kann kein Blut sehen!«
    Lisa
herrschte ihn wütend an:
    »Verdammt,
Paul, reiß dich zusammen. Tessa braucht dich jetzt.«
    Statt einer
Antwort würgte er erneut. Nein, danke. Ihn brauchte ich wahrlich nicht!
Mich im Stich zu lassen und sich dann schlecht zu fühlen, weil er mein Blut
nicht sehen konnte, das war der Gipfel!
    Lucas
ignorierte ihn völlig und war total auf mich konzentriert. Unter seinem liebevoll-besorgten
Blick schmolz ich trotz meines miserablen Zustandes fast dahin. Er hatte seine
Jacke ausgezogen und breitete sie vorsichtig über meinem Oberkörper aus. Mir
wurde etwas wärmer, aber ich zitterte weiter. Ich konnte nichts dagegen tun.
    Er zog mir
vorsichtig die Handschuhe aus und ich spürte, wie meine eiskalten Hände von
seinen warmen umfangen wurden.
    Beruhigend
sprach er auf mich ein. Er erklärte mir, dass ich tief atmen sollte. Dass alles
gut werden würde. Ich solle keine Angst haben. Seine Stimme war das Einzige, was
mich aus dem grenzenlosen Meer von Schmerz, in welchem ich schwamm, heraus und
in die Gegenwart zog. Stopp, da war noch ein anderes Geräusch. Irgendjemand
würgte hinter mir und übergab sich. Paul fand meine Verletzungen scheinbar
buchstäblich zum Kotzen. Geschah ihm Recht! Trotz meines miserablen Zustandes
fühlte ich Schadenfreude.
    Lisa rief
erleichtert:
    «Die
Bergwacht ist da!«
    Ich drehte
vorsichtig den Kopf nach links, wo ich ein schabendes Geräusch vernahm. Zwei
Männer kamen mit einem Akja, einem Rettungsschlitten, den sie an Seilen mit sich
führten, neben uns zum Stehen. Alles in mir wehrte sich. Ich wollte nicht in
diesem Kanu auf Kufen den Berg hinunterkutschiert werden! Allein bei dem
Gedanken, wie mein geschundener Körper und auch mein heftig schmerzender Kopf
bei dieser Fahrt durchgerüttelt würden, packte mich das kalte Grausen. Bis ich
unten ankam, wäre ich wieder ohnmächtig. Oder vor Schmerz gestorben.
    Die beiden
Rettungssanitäter sahen das ähnlich. Nach einem kurzen Gespräch mit mir und
einer oberflächlichen Untersuchung zückte einer beiden sein Handy und entfernte
sich ein paar Meter.
    Kurz darauf
kehrte er zu mir zurück. Er und sein Kollege wickelten mich ganz vorsichtig in
eine Art goldene Wärme-Alufolie mit Decken aus dem Akja darüber ein, während er
Lucas, der immer noch dicht bei mir kniete, erklärte:
    »Wir lassen sie
vom Hubschrauber abholen und nach Innsbruck fliegen. Sie hat eine
Kopfverletzung, es besteht Verdacht auf eine Gehirnerschütterung und vermutlich
ist ihr Bein gebrochen.«
    Hubschrauber?
Na klasse. Ich hatte zwar Schiss vor der Abfahrt gehabt, aber deswegen gleich
ausgeflogen zu werden, hatte definitiv nicht auf meiner Tagesordnung gestanden.
Auch wollte ich nicht nach Innsbruck ins Krankenhaus. Ich wollte heim in mein
Bett. Aber mich fragte keiner. Wenige Minuten später hörte ich ein leises
knatterndes, brummendes Geräusch, welches stetig lauter wurde. Ganz oben am
Himmel, direkt vor den grauen Wolkenschwaden, tauchte, zuerst winzig klein,
dann rasch größer werdend, ein rotgelber Hubschrauber auf, der in immer enger
werdenden Spiralen nach unten sank. Er hatte mit den sich drehenden
Rotorblättern und dem Lärm, den er machte, fatale Ähnlichkeit mit einer
Riesenwespe, welche direkt auf mich zuhielt. Einer der Bergretter hatte sich auf
der Piste aufgestellt und winkte den Piloten mit erhobenen Armen an die
richtige Landestelle. Alle anderen Zuschauer, auch Lisa und Paul, waren von
seinem Kollegen hundert Meter nach hinten verbannt worden. Nur Lucas hatte sich
geweigert, mich allein zu lassen, kniete neben mir und hielt immer noch meine
Hände.
    Mit
ohrenbetäubendem Geknatter landete der Hubschrauber wenige Meter von uns
entfernt. Sobald die Kufen den Boden berührt hatten, wurde es schlagartig
still. Die sich immer noch drehenden Rotorblätter wirbelten dichte Schneeböen
auf.

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