So unerreichbar nah
Lucas und ich wurden von Schneefontänen bestäubt und schienen uns
sekundenlang zu zweit allein händchenhaltend mitten in einem Schneesturm zu
befinden. Alles hätte so romantisch sein können. Wie im Film! Nur meine fürchterlichen
Schmerzen, mein leises Stöhnen und die Tatsache, dass mir immer noch Blut übers
Gesicht lief, störten die idyllische Szene massiv.
Dann ging
alles sehr rasch. Der Notarzt sprang aus dem Hubschrauber, sobald die Rotoren
still standen. Er und die Bergretter hoben mich rasch und geschickt auf eine
Trage. Sie machten Anstalten, mich ins Innere der Riesenwespe zu verfrachten.
Verzweifelt sah ich Lucas an. Ich wollte da nicht allein rein, fühlte mich
hilflos und ausgeliefert. Ich hatte fürchterliche Angst. Er verstand sofort. Noch
während er fragte: »Kann ich mit? Sie ist meine Freundin«, stieg er bereits
ein. Der Notarzt, der gerade meinen Blutdruck maß, nickte kurz.
Maßlos
erleichtert darüber, dass ich nicht allein ins Ungewisse geflogen wurde - wer weiß,
was die Ärzte alles an Verletzungen feststellen und mit mir anstellen würden -
schloss ich die Augen. "Meine Freundin", hatte er gesagt! Es hatte
wunderschön geklungen, auch wenn ich wusste, dass er der Einfachheit halber
geschwindelt hatte, um mitgenommen zu werden.
.
EMOTIONAL ROLLERCOASTER
»Mach dir
keine Sorgen, Tessa. Kuriere du dich vollends aus, bevor du wieder zu arbeiten
anfängst. Max, Franziska und ich haben alles im Griff.«
Johannes´
Beschwichtigungsversuche hatten bei mir genau den gegenteiligen Effekt wie
erwünscht. Als ich das Gespräch auf meinem Handy weggedrückt hatte, war mir
flau im Magen.
Ausgerechnet
Franziska! Jetzt durfte sie sogar ganz offiziell meine Patienten weiter
behandeln, sofern die einverstanden waren. Mühsam ergriff ich meine Krücken,
drückte ich mich aus meinem Sessel hoch und humpelte in die Küche, um ein Glas
Wasser zu trinken.
Mein Skiunfall
lag acht Tage zurück. Seit zwei Tagen befand ich mich wieder in meiner Wohnung
in München. Ich hatte mir - außer Prellungen am ganzen Körper - an meinem
rechten Bein einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen, der noch am gleichen Tag in
der Innsbrucker Unfall-Klinik operiert worden war. Schon am Folgetag durfte ich
aufstehen und die ersten Gehübungen machen und nach einigen Tagen war ich
entlassen worden. Der allmorgendliche Anblick meines Körpers im Spiegel rief
Unglauben und Entsetzen in mir hervor, da ich dank der frisch vernähten Narbe
auf der linken Stirnseite - da hatte mich die Kante meines gelösten Skis
getroffen - der Operationsnarbe auf meinem Oberschenkel sowie den blaugelben
Blutergüssen am ganzen Körper wie Frankensteins Tochter wirkte. Ganz nach dem
Motto: Willst du dir den Tag versauen, musst du nur in den Spiegel schauen! Ich
sah genauso kaputt aus, wie ich mich fühlte. Die Ärzte hatten mir versichert,
die Gesichtsnarbe würde in ein paar Monaten so gut wie unsichtbar sein. Sie
leuchtete wulstig-rot und unübersehbar über meinem linken Auge, deshalb hielt
ich diese Behauptung für reine Beschwichtigung.
Jetzt hing
ich relativ nutzlos mit sehr eingeschränkter Gehfähigkeit in meiner Wohnung
herum und stand unter Drogen. Ohne Schmerzmittel kam ich noch nicht aus. Ich
sah viel fern, guckte alte Filme und neue TV-Serien, schlief und las. Ich hatte
es gründlich satt, mich nicht frei bewegen zu können. Bei schlechter Laune half
es mir üblicherweise am besten, mich im Fitness-Studio oder bei einem strammen
Spaziergang auszutoben. Genau dies war aber momentan überhaupt nicht möglich. Ich
konnte meine miese Verfassung nicht einmal durch Porschefahrten verbessern, da
Autofahren mit meinem verletzten Bein ebenfalls nicht drin war.
Die einzige
Abwechslung des Tages bestand darin, dass mich Lisa zu meiner Physiotherapeutin
fuhr, dort auf mich wartete und dann wieder nachhause brachte.
Nach wie vor
weigerte ich mich trotzig, mit Paul zu sprechen geschweige denn, ihn in meinen
vier Wänden zu empfangen. Ich verzieh ihm sein Verhalten auf dem Berg nicht.
Zudem war er, als ich in meinem Wutanfall losfuhr und kurz darauf ohnmächtig seitlich
der Piste lag, einfach ins Tal abgefahren. Im Nebel hatte er mich nicht
gesehen. Er behauptete, er sei davon ausgegangen, dass ich längst bei Lisa und
Lucas an der Talstation angekommen war (logisch, so schnell, wie ich fuhr!) und
habe einen Riesenschreck bekommen, als er die beiden allein antraf. Lucas hatte
ihn gar nicht ausreden lassen, sondern war sofort in den Lift
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