So unerreichbar nah
regelrecht
den Hals zu. Es schmerzte unendlich, ihn so dicht vor mir zu haben und zu
sehen, wie er und Lisa zusammengehörten.
Unsere,
beziehungsweise meine unerfüllte Liebe war chancenlos: Selbst wenn er
utopischerweise Lisa wegen mir verlassen würde, könnte ich mit ihm nie
glücklich sein, da unser Glück auf Lisas Kummer aufgebaut wäre…Er war und blieb
für mich unerreichbar nah. Wenn sie beide meine Wohnung verlassen hatten, lag
ich heulend in meinem Bett. Ich steckte mitten in einem gewaltigen Strudel von
Selbstmitleid, Selbsthass, schlechtem Gewissen meiner Freundin gegenüber,
Verliebtheit und gleichzeitigem Liebeskummer fest. Und hatte keine Ahnung, wie
ich da jemals wieder rauskommen sollte. Da half meine gesamte psychologische
Ausbildung nicht. Oder anders ausgedrückt: Auch Psychologen sind nur Menschen!
Ganz langsam
ging es mir wenigstens körperlich besser. Die Prellungen gingen von blaugelb in
hellgelb über und auch meine Narben sahen nicht mehr ganz so furchterregend
aus. Zwei Wochen nach dem Unfall erlaubte mir meine Physiotherapeutin moderates
Fahrradergometer-Training, um die Muskeln wieder aufzubauen. Lisa und Lucas
stellten Lisas Hometrainer in mein Wohnzimmer. Ich riss so oft es ging, mein
Fenster auf, um das Gefühl zu haben, an der frischen Luft zu trainieren. Das
Laufen ging auch etwas besser und ich wurde immer selbstständiger.
Am Wochenende
besuchte mich Alicia, nachdem sie sich vorher telefonisch angekündigt hatte. Stolz,
weil sie es geschafft hatte, mit ihrem Auto allein zu mir zu fahren, stand sie
vor meiner Tür und hielt mir einen riesigen Frühlingsblumenstrauß entgegen.
»Hallo, Frau
Achern. Ich habe so oft an Sie gedacht. Der Strauß ist von mir und meinem
Bruder. Meine ganze Familie ist glücklich über die raschen Fortschritte, die ich
nur Ihnen zu verdanken habe.«
Ich bat sie
nach innen und wir verbrachten einen unterhaltsamen Nachmittag bei Kaffee und
von Alicia selbstgebackenen mitgebrachten Käsekuchen. Sie sah um vieles besser
aus als bei meinem ersten Besuch bei ihr, war schick angezogen, geschminkt und
wesentlich aufgeschlossener. Es kostete sie durchaus noch Überwindung, ihre
vier Wände zu verlassen, wie sie mir eingestand.
»Aber der
Drang, ein normales Leben zu führen, ist stärker. Nächste Woche versuche ich,
eine Strafrechtsvorlesung an der Uni zu besuchen. Ein Kommilitone holt mich ab.
Ich habe mir ein Herz gefasst und meinen Studienfreunden, von denen ich mich
völlig abgekapselt hatte, die Wahrheit über meine Ängste erzählt. Keiner von
ihnen hat mich, wie ich insgeheim befürchtet habe, ausgelacht. Von allen Seiten
kamen Hilfsangebote!«
Als ich abends
wieder allein war, tauschte ich Jeans und Pulli gegen alte Sportklamotten,
steckte mein Haar hoch und setzte mich wieder auf das Fahrrad. Ich freute mich
immer noch über Alicias Dankbarkeit und die Tatsache, dass ich ihr so gut
helfen konnte. Ich hatte Lisa und Lucas ausdrücklich verboten, heute zu mir zu
kommen. Die beiden hatten so viel für mich getan, dass es höchste Zeit wurde,
sie wieder ein eigenes Leben führen zu lassen.
Eine halbe
Stunde später stand ich in meiner Küche und mischte mir einen Salat aus Käse
und gegrillten Zucchini, als ich meine Türglocke vernahm.
Vollkommen
darin vertieft, mir zu überlegen, was ich meiner Freundin und Lucas für eine
Standpauke halten würde, weil sie schon wieder ihren freien Abend bei mir
verbringen wollten, humpelte ich in den Gang und riss ich die Tür auf. Sofort
schrak ich zurück. Hinter einem überdimensionalen Rosenstrauß mit herrlich
samtigen dunkelroten Blüten erschien Pauls halb zerknirschtes, halb
erwartungsvolles Gesicht. Ich verfluchte innerlich meine Nachlässigkeit, nicht
zuerst durch den Türspion gesehen zu haben, bevor ich öffnete. Ich wollte keine
roten Rosen und noch viel weniger hatte ich Lust auf eine Unterhaltung mit ihm.
Genau das erklärte ich ihm unumwunden.
»Paul, was
willst du hier? Ich habe dich nicht eingeladen. Genau genommen will ich dich
gar nicht sehen.«
Wie ich
feststellte, war es schwierig, unsicher auf Krücken balancierend, in verbeulten
Jogginghosen und Schlabber-T-Shirt einen energischen, überzeugenden Eindruck
zu vermitteln. Paul jedenfalls nahm mich nicht ernst. Er ließ den Strauß sinken
und blickte mich zerknirscht an. Meiner Ansicht nach zu zerknirscht, um es
tatsächlich ernst zu meinen.
»Tessa,
bitte. Du kannst doch nicht ewig schmollen. Natürlich habe ich mich
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