So weit der Wind uns traegt
Chefin, Sie brauchen dringend eine Mütze Schlaf. Falls Sie sich ein bisschen hinlegen wollen, bleibe ich gern noch ein oder zwei Stunden. Heute Abend habe ich eine Verabredung. Aber jetzt hätte ich Zeit.“
Evie lächelte gerührt. „Danke, Craig, das ist nicht nötig. Fahr nach Hause. Ich werde mir eine Teilzeitarbeit besorgen, um alles bezahlen zu können, was derzeit zu Bruch geht.“
„Was ist zu Bruch gegangen?“, fragte eine tiefe Stimme hinter ihnen. Craig und sie drehten sich um. Ein Boot war vorübergetuckert und hatte Roberts Schritte übertönt. Im Gegensatz zu ihr sah er wunderbar ausgeruht aus. Äußerlich war ihm nichts anzumerken. Doch Evie war sicher, dass ihm Craigs Arm um ihrer Taille nicht gefiel.
„Mein Kühlschrank ist gestern Abend verreckt“, antwortete sie. „Ich habe den ganzen Morgen gebraucht, bis ich ein gutes Gerät aus zweiter Hand gefunden hatte.“
Robert schwieg eine ganze Weile und sah sie nachdenklich an. Sein nächtlicher Plan war misslungen, weil er einen wichtigen Punkt nicht bedacht hatte. Er hatte immer genügend Geld besessen und war nicht auf die Idee gekommen, dass Evie ein gebrauchtes Gerät kaufen könnte. Zwar hatte er sie finanziell stärker unter Druck gesetzt, aber immer noch nicht genug.
„Du hast letzte Nacht nicht viel Schlaf bekommen, nicht wahr?“, fragte er endlich.
„Nur ein paar Stunden. Dafür werde ich heute Nacht wie ein Murmeltier schlafen.“
„Wenn Sie mich wirklich nicht mehr brauchen …“, begann Craig.
„Nein. Danke. Wir sehen uns morgen.“
„Dann bye-bye.“ Pfeifend schlenderte er davon. Robert sah dem großen, kräftigen Jungen nach, der einmal ein gut aussehender junger Mann sein würde.
„Du hast keinen Grund, eifersüchtig auf Craig zu sein“, erklärte Evie kühl und ging an ihm vorüber ins Büro.
Robert folgte ihr verblüfft. Sobald sie im Haus waren, meinte er: „Ich erinnere mich nicht, so etwas gesagt zu haben.“
„Nein. Aber es war dir deutlich anzumerken.“
Robert erschrak. Evie war nicht nur scharfsinnig. Sie konnte Gedanken lesen!
„Ich kannte Craig schon, als er noch ein kleines Kind war. Unsere Beziehung hat absolut nichts Sexuelles.“
„Aus deiner Sicht vielleicht nicht“, antwortete Robert ungerührt. „Aber ich war selber einmal ein Teenager.“
„Ich habe keine Lust, mich jetzt über verwirrte Hormone zu unterhalten. Wenn du nur meckern willst, geh bitte. Ich bin zu müde, um mit dir zu streiten.“
„Das stimmt.“ Robert zog sie in die Arme und legte ihren Kopf an seine Schultergrube. Besänftigend streichelte er ihr Haar. Es war von der Sonne gewärmt und wie immer zu einem Zopf geflochten. Gestern Abend hatte Evie es zu einem eleganten Knoten geschlungen. Eines Tages – besser gesagt, eines Nachts – würde er es lösen und auf seinem Kissen ausbreiten.
Zärtlich wiegte er Evie hin und her. Sein fester Körper war ein so wunderbarer Halt, dass ihr die Augen zufielen. Plötzlich merkte sie, dass sie jeden Moment einschlafen konnte, und machte sich entschlossen los. „Das genügt. Sonst schlafe ich noch in deinen Armen ein.“
„Das wirst du demnächst sowieso tun“, antwortete Robert. „Nur in einer anderen Umgebung.“
Ihr Herz tat einen heftigen Sprung. Unwillkürlich musste sie an die einzige Nacht denken, die sie in Matts Armen gelegen hatte. Schon am nächsten Tag war die schöne Erinnerung vom Kummer und Leid über seinen Tod überschattet worden. Mit Robert würde es ganz anders sein.
Robert bemerkte die Trauer in ihren Augen und schäumte innerlich. Jedes Mal, wenn er glaubte, bei Evie weiterzukommen, trat Matts Schatten dazwischen. So unwahrscheinlich es klang, er bezweifelte nicht mehr, dass Evie seit dem Tod ihres Mannes enthaltsam lebte. Eine körperliche Beziehung mit Landon Mercer hatte sie gewiss nicht. Er, Robert, würde sich nicht mit so wenig begnügen.
„Bist du aus einem bestimmten Grund gekommen?“, fragte Evie.
„Ich wollte dich nur einen Moment sehen. Essen wir einen Happen, bevor du nach Hause fährst?“
„Nein, lieber nicht. Ich bin so müde, dass ich sofort schlafen gehen möchte.“
„In Ordnung.“ Zärtlich streichelte er ihre Wange. „Dann sehen wir uns morgen. Pass gut auf, wenn du nachher über den See fährst.“
„Das tue ich immer. Die Tage sind so lang, dass ich zu Hause sein werde, bevor es dunkel ist.“
„Pass trotzdem auf.“ Er beugte sich zu ihr, küsste sie und schlenderte anschließend davon.
11. KAPITEL
E vie
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