So wie ich will - Mein Leben zwischen Moschee und Minirock
früher, so sah ihr Traum mal aus. Heute können sie sich das nicht mehr vorstellen.
Ich glaube, sie sind innerlich ganz schön zerrissen: dort die geliebte Heimat, hier ihre geliebte Familie. Als würden sie zwischen zwei Stühlen sitzen. Halten sie sich in der Türkei auf, fehlen ihnen vor allem die Kinder und Enkel, aber auch eine Menge Annehmlichkeiten, an die sie sich hier gewöhnt haben: an die guten Straßen - doch, die sind viel besser als in der Türkei -, an prall gefüllte Supermärkte oder an die Busse und Bahnen, mit denen sie in Berlin zu jeder Tageszeit leicht überallhin kommen. Sind sie dann in Deutschland und haben all das, vermissen sie wiederum
ihre alten Nachbarn, die Berge und das Meer und die Ziegen und ich weiß nicht, was sonst noch alles; kurz gesagt ist es vermutlich das Gefühl von Heimat, das sie hier nicht haben.
Woran man außerdem erkennt, dass ihr Lebensplan einmal anders ausgesehen hat, ist der Umstand, dass es mit ihrem Deutsch nicht weit her ist. Großvaters geht noch, obwohl er schon mal in einem Prospekt für Spielekonsolen nach Kochtöpfen suchte, was ich sehr lustig fand. Es hat nie jemand von ihm verlangt, Deutsch zu lernen. In der Firma, für die er arbeitete, wurden den Gastarbeitern Dolmetscher organisiert, die allen Papierkram erledigten. Zu Hause halfen ihm seine Kinder mit ihrem Schuldeutsch. Und Freundschaften pflegte er sowieso nur zu anderen Gastarbeitern, man blieb unter sich. Hätte er nicht auch deutsche Arbeitskollegen gehabt, wäre sein Deutsch noch rudimentärer. Aber auch so käme er nie auf die Idee, einen deutschen Fernsehsender einzuschalten oder sich mit den komplizierten Sätzen in einer deutschen Zeitung herumzuquälen.
Vom türkischen Fernsehen dagegen kann er gar nicht genug kriegen, jetzt, da er ausreichend Zeit hat. Mindestens dreimal am Tag sieht er sich die Nachrichten an - jeweils auf sechs verschiedenen Kanälen. Ich sage immer, die Nachrichten sind Großvaters Lebenselixier. Man muss ihn einmal dabei beobachten, dann versteht man das: Kaum beginnt der Vorspann, schiebt er seinen Stuhl dicht vor den Fernseher, setzt sich darauf, beugt sich nach vorn, sodass er den Bildschirm mit dem Kopf schon fast berührt, und verfolgt mit weit aufgerissenen Augen, was gesendet wird. Gleichzeitig hält er in der linken Hand einen kleinen
Schreibblock bereit, in der rechten einen Kugelschreiber, um sich das Wichtigste zu notieren. Das ist eine alte Angewohnheit von ihm. Früher, als die meisten Gastarbeiter noch nicht genug Geld hatten, um sich Fernseher und Satellitenschüsseln leisten zu können, schrieb er immer die neuesten Nachrichten auf weiße Zettel, ging anschließend herum und verteilte sie in die Briefkästen seiner Freunde. Heute wartet keiner mehr auf seine Nachrichten, trotzdem schreibt er sie weiterhin. Meistens liegen sie anschließend in der Wohnung herum, bis Großmutter aufräumt und sie in den Müll wirft. Nur die, die Großvater für besonders wichtig hält, über neue Gesetze beispielsweise, hebt er in einer Schublade auf.
Bei Großmutter ist es mit der deutschen Sprache noch schwieriger. Sie bringt kein einziges Wort über die Lippen, nicht mal ein einfacher Begriff wie »Auto« ist ihr geläufig. Wie sie leben kann, ohne zu verstehen, was die Leute um sie herum sagen, ist mir ein Rätsel. Sie wird immer ganz traurig, wenn ich in ihrem Beisein mit meinen Tanten Deutsch spreche. Wir wiederholen dann alles noch einmal auf Türkisch, damit sie mitreden kann. Großmutter geht auch niemals allein zum Arzt. Ich meine natürlich: zu einer Ärztin, zu einem Arzt würde sie sowieso nicht gehen. Tante Zeynep nimmt sich jedes Mal einen Tag frei, um sie zu begleiten.
Einmal war ich auch dabei. Großmutter plagten Schmerzen in der Magengegend. Sie fuchtelte vor der Ärztin mit den Armen herum, um sich verständlich zu machen, was recht temperamentvoll aussah, jedoch nicht das Geringste zur Erhellung des Problems beitrug. Das gelang erst, als Tante Zeynep dolmetschte. Der Ärztin übersetzte sie
Großmutters Worte, und für die Ärztin stellte sie Großmutter Fragen, die helfen sollten, die Beschwerden besser deuten und genauer lokalisieren zu können. Als die Ärztin mit Großmutter fertig war, blieb Tante Zeynep sogar noch in der Praxis, um anderen türkischen Patientinnen zu helfen, die sich mehr schlecht als recht verständigen konnten. So ist sie, meine Tante.
Babas Eltern waren, was die deutsche Sprache angeht, noch konsequenter. Sie
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