So wie ich will - Mein Leben zwischen Moschee und Minirock
haben sich ihr völlig verschlossen, erst fünf Jahre lang, dann waren plötzlich zehn vorüber, dann zwanzig, jetzt über dreißig, fast vierzig, und das mitten in Berlin. Ich weiß, kann man sich schwer vorstellen. Noch heute ist es unmöglich, mit ihnen auch nur einen Satz auf Deutsch zu wechseln. Das ist nichts, worauf ich stolz bin, aber ich schäme mich deswegen auch nicht für sie. Immer wieder begegnen mir Menschen, die mich komisch angucken, wenn sie das merken, und meine Großeltern für furchtbar ungebildet und zurückgeblieben halten. Diese Leute vergessen einfach die Umstände. Man kann das nicht mit heute vergleichen. Erst recht kann ich meine Großeltern nicht mit mir vergleichen. Natürlich würde ich es ganz anders anstellen, wenn ich in ein fremdes Land ginge. Aber ich bin auch in einer Großstadt aufgewachsen, im Heute, und nicht vor fünfzig oder sechzig Jahren in einem rückständigen Dorf. Durch die Schule habe ich von anderen Kulturen erfahren und gelernt, mich damit auseinanderzusetzen. Für mich ist Sprache ein Mittel, um mich auszutauschen. Und ich will mich mit anderen austauschen, will keine Grenzen gesetzt bekommen, nur weil ich die Sprache der anderen nicht beherrsche. Meine Großeltern dagegen
kommen aus einem Dorf, in dem es früher weder Fernsehen noch Radio gab. Ihr Dorf war ihre Welt. Alle Menschen, die sie kannten und die ihnen wichtig waren, sprachen dieselbe Sprache wie sie. Dadurch bedeutete Sprache gleichzeitig Identität. Mehr kannten sie nicht, als sie in die Fremde zogen, nach Deutschland. Aus heutiger Sicht mag es verblüffen, wie sie damals reagierten. Anstatt sich dem neuen Land, der anderen Kultur zu öffnen, verschlossen sie sich dem Fremden wie Austern.
Ich glaube, Angst spielte da eine entscheidende Rolle. Es ging ihnen nicht darum, sich mit den Deutschen kulturell auszutauschen. Sie wollten Geld verdienen, um ein angenehmeres Leben zu haben, ihr gewohntes Leben, nur besser, frei von Armut. Ihre Kultur wollten sie behalten, denn die war das Vertraute. Als sie merkten, dass sie in Deutschland ein völlig anderes Leben erwartete, müssen sie Angst bekommen haben, Angst, diese Kultur zu verlieren, ihre Sprache und damit auch ihre Identität. Also gingen sie arbeiten, versuchten ansonsten aber so zu leben, wie sie das aus ihrer Heimat gewohnt waren. Sie praktizierten ihre Religion, pflegten ihre Traditionen, hielten ihre Werte hoch, kochten weiterhin türkische Gerichte, und wenn sie Kontakt zu anderen Menschen suchten, fiel ihre Wahl zuallererst auf Landsleute, mit denen sie die gemeinsame Sprache verband.
Ungefähr so müssen sich Annes und Babas Familien kennengelernt haben, hier in Berlin. So genau kann sich niemand mehr daran erinnern. Der Kontakt soll irgendwann einfach da gewesen sein. Vielleicht waren sich die Väter in der Moschee begegnet und ins Gespräch gekommen oder
beim Arbeiten, oder die Mütter waren sich beim Einkaufen über den Weg gelaufen. Vielleicht hatte die eine Familie von der anderen gehört, dass sie aus derselben Gegend stammte. Es könnte sogar sein, dass sie sich dort, in der Türkei, schon mal begegnet waren, auf einer Hochzeit von entfernten Verwandten möglicherweise, ohne dass sie voneinander besonders Notiz genommen hätten. Jedenfalls war es keine dicke Freundschaft, die sie zusammenführte, zumindest das ist sicher. Näher kamen sie sich auch erst, als Baba, der als Dreizehnjähriger, sechs Jahre nach Anne, nach Deutschland gekommen war, das heiratsfähige Alter erreichte.
Die mündlich überlieferte Familienchronik besagt, dass mein Großvater mütterlicherseits derjenige war, der damals die Verkupplung meiner Eltern in Angriff nahm. Zunächst führte er ein Gespräch unter Männern mit Babas Vater. Nachdem geklärt war, dass Baba noch keiner Frau versprochen worden war, verständigten sich die beiden Väter darauf, dass Anne eine gute Partie für Baba und der umgekehrt eine gute Partie für Anne sei. Es folgte der obligatorische Familienbesuch. Babas Familie rückte bei Annes an. Na ja, und bei dieser Gelegenheit wurden gleich Nägel mit Köpfen gemacht, wie das üblich war - und bei vielen noch immer ist: Babas Vater begann mit der traditionellen Floskel: »Wir sind in einer heiligen Angelegenheit gekommen …« Den wichtigsten Satz richtete er wenig später direkt an Annes Vater: »Mit Gottes Befehl und Zustimmung des Propheten wünschen wir Ihre Tochter für unseren Sohn.« Danach wurde auch noch Anne gefragt, was sie von
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