So wie ich will - Mein Leben zwischen Moschee und Minirock
nicht, weil ich es nicht kann, sondern weil ich nicht will. Bei den
Familientreffen ist das etwas anderes. Erst recht, wenn wir uns bei Onkel Cemal und Tante Hediye treffen, dann bereite ich sogar gern den Tee zu.
Ich weiß nicht, ob man schon gemerkt hat, dass mir unsere Familientreffen sehr viel bedeuten. Ich liebe diese Abende, weil ich meine Familie liebe. Es herrscht immer eine besondere Stimmung, schwer zu beschreiben, jedes Mal ist sie ein bisschen anders. Wahrscheinlich ist es das Gefühl der Verbundenheit, das ich daran so mag. Ganz gleich, bei wem wir uns treffen, wir sitzen immer alle zusammen im Wohnzimmer, auch wenn es manchmal eng wird. Großmutter und Großvater gehören die Plätze auf der Couch, die bequemsten, das ist Gesetz. Wir anderen suchen uns irgendeine Sitzgelegenheit, holen Stühle aus der Küche oder kauern uns einfach auf den Boden. Dann wird losgequatscht, manchmal von sieben Uhr abends bis nachts um zwei, und selbst dann gackern wir noch wie die Hühner.
Schade, dass wir zu Babas Sippe keinen so guten Draht entwickeln konnten, aber das kommt in den besten Familien vor. Trotzdem ist es interessant zu beobachten, wie unterschiedlich sich Annes und Babas Familien entwickelt haben, wo die Ausgangsbedingungen doch nahezu identisch waren. Beide stammen aus derselben Region im Norden der Türkei, sie lebten nur wenige Kilometer voneinander entfernt, in der Nähe des Schwarzen Meeres, allerdings ohne sich zu kennen. Beide waren Bauernfamilien, die nichts im Überfluss hatten, nur wenig verdienten, sich das Wenige aber hart erarbeiten mussten.
Meine Großeltern mütterlicherseits brachen zuerst nach
Deutschland auf, Anfang der Siebzigerjahre. Damals existierte ein Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und der Bundesrepublik, das es ihnen ermöglichte, ganz offiziell als Gastarbeiter hierherzukommen. Zunächst kam Großvater allein, er holte Großmutter später nach, zusammen mit Tante Hediye. Anne und ihre anderen Geschwister blieben so lange bei einem Onkel in Istanbul. Der hatte dort ein sogenanntes Gecekondu -Haus gebaut, die zu dieser Zeit am Stadtrand wie Pilze aus dem Boden schossen. Gecekondu bedeutet »nachts hingestellt«. Nach einem Gewohnheitsrecht, das aus der Zeit des Osmanischen Reiches stammt, sind Häuser, die über Nacht auf öffentlichem Grund errichtet werden, geschützt. Sie dürfen nicht gegen den Willen des Besitzers abgerissen werden. Das ist übrigens immer noch so, obwohl sie nach heutigem Recht als illegale Bauten gelten. Man muss nur alle Materialien vorher zusammenhaben und es irgendwie schaffen, den Bau in einer einzigen Nacht hochzuziehen. Paläste entstehen so natürlich nicht, aber als Slums kann man diese Gegenden auch nicht bezeichnen. Viele der Häuser werden nachträglich verschönert. In der Region um Istanbul leben fast siebzig Prozent der Einwohner in solchen Häusern, in der Umgebung von Ankara und Izmir sind es noch mehr. Viele sind ehemalige Bauern, die es in die Stadt zog, weil sie dort leichter Arbeit bekamen und besser entlohnt wurden. Ein Onkel von Baba wohnt auch in einem Gecekondu -Haus. Seins ist sogar ziemlich schön, und es hat einen tollen Garten, in dem Weintrauben und Äpfel wachsen.
Anne war sieben Jahre alt, als sie von ihren Eltern nachgeholt wurde, mit ihr Tante Zeynep. Es gibt Fotos, die müssen ungefähr zu dieser Zeit gemacht worden sein, da stehen
Großmutter und Großvater hinter ihren sechs Kindern, drei Töchter, drei Söhne. Sie wirken sehr stolz. Aber was mir darauf noch auffällt: Großmutter trug ihren Rock viel kürzer als heute, er reichte gerade mal bis zu den Knien. Auch das Kopftuch hatte sie nicht so streng gebunden, wie sie das jetzt macht, auf ihrer Stirn lugten Haare hervor. Und sie sieht glücklich aus.
Nicht, dass Deutschland sie unglücklich gemacht hätte, ihr Plan sah nur anderes vor. Sich ein bisschen Wohlstand erarbeiten wollten sie und dann in die Heimat zurückgehen. Wobei Wohlstand für sie damals eine andere Bedeutung hatte als für mich heute. Sie gingen beide arbeiten, ernährten ihre Kinder, schickten Geld zu den Familien in die Heimat, sparten selbst etwas, um in den Sommerferien dorthin zu fahren, wo sie herkamen und wo sie nach ihrem Gefühl eigentlich auch hingehörten. Später reichte es für eine kleine Eigentumswohnung am Schwarzen Meer, ganz in der Nähe ihres Heimatdorfes, in der sie jetzt die Hälfte des Jahres verbringen. Eines Tages zurückgehen und wieder dort leben, nur noch dort, wie
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