So wie ich will - Mein Leben zwischen Moschee und Minirock
Zakat . Damit sind Almosen gemeint, mit denen Armen, Verschuldeten, Gefangenen und sonst wie Bedürftigen geholfen werden soll. Ob man Almosen gibt oder nicht, hängt allerdings nicht vom guten Willen des Einzelnen ab. Es ist eine Pflichtabgabe, die dem Hab und Gut des Menschen seinen Makel nehmen soll und deren Höhe klar definiert ist: Jeder, der über mehr als das Existenzminimum verfügt und dessen Schulden nicht sein Vermögen übersteigen, muss einen Teil davon abgeben, mindestens zweieinhalb Prozent. Schüler wie ich sind davon befreit, bis sie ihr eigenes Geld verdienen.
Das Fasten, Saum , ist der vierte Grundpfeiler des islamischen Glaubens - und in unserer Familie eine schwer diskutierte Angelegenheit. Das liegt vor allem daran, dass hier die Meinungen absoluter Befürworter und absoluter Gegner aufeinanderprallen. Wobei in erster Linie der gesundheitliche Aspekt umstritten ist. Doch zum Fasten gehört ja nicht nur, dass man während des Ramadan von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang keine Nahrung zu sich nimmt, nichts trinkt, keinen Kaugummi kaut und auch nicht raucht, sondern auch keinen Geschlechtsverkehr hat und sich generell von jeder Sünde fernhält. Anne
und Baba legen sehr viel Wert darauf und fasten jedes Jahr. Soweit ich mich erinnere, haben sie das immer so gehalten. Ich sah das Fasten als Kind weniger als religiöse Handlung, sondern mehr als spannendes Abenteuer und wollte schon mitmachen, als mich meine Eltern noch zu klein dafür hielten. Doch genau das machte ja den Reiz aus: Ich wollte zu dem auserwählten Kreis gehören und das tun, was die Erwachsenen taten. Zumal es mit aufregenden Ereignissen, ja regelrechten Spektakeln, verbunden war.
Als ich zehn Jahren alt war, setzte ich meinen Dickkopf dann durch. Ich durfte mitten in der Nacht aufstehen, mir zusammen mit Anne, Baba und Tayfun den Magen vollschlagen und mich danach wieder ins Bett legen, bis ich zur üblichen Zeit aufstehen musste. Das Hungern tagsüber betrachtete ich als Herausforderung und Willensprobe zugleich. Ich musste nur schaffen, so lange nichts zu mir zu nehmen wie die Großen auch - und konnte dann mächtig stolz auf mich sein. Umso schöner war es abends, nachdem die Sonne endlich verschwunden war. Anne kochte üppigere Mahlzeiten als sonst, richtige Menüs, weil wir natürlich alle gewaltigen Kohldampf hatten und sie uns für das Hungern belohnen wollte. Was sie auch auf den Tisch brachte, mir kam es jeden Tag wie ein Festmahl vor, alles schmeckte viel leckerer als sonst. Wir aßen bewusster, und das Essen erschien uns wertvoller.
Einmal probierte Anne ein neues Rezept aus einem türkischen Kochbuch aus. Nichts Kompliziertes, irgendwie Fleisch mit Joghurt und Brot obendrauf. Alles zusammen kam in eine gläserne Auflaufform und musste dann in den Backofen geschoben werden. Wir saßen schon alle gespannt am Küchentisch und warteten, dass es mit dem
Essen losgehen konnte. Warum Anne die Form unbedingt mit bloßen Händen aus dem Ofen holen wollte, kann ich nicht erklären. Wahrscheinlich war sie selbst irre hungrig und wollte nur, dass es schnell geht. Sie griff also zu, zog ihre Hände aber noch schneller wieder zurück, die Form fiel heraus und unser Essen auf den Boden. Man könnte vermuten, dass wir in diesem Moment alle vor Entsetzen laut aufschrien. Immerhin hatten wir uns den ganzen Tag nichts sehnlicher herbeigewünscht als diese Mahlzeit. Aber so war es nicht. Regungslos, wie in Schockstarre, saßen wir auf unseren Stühlen - außer Anne, die stand, bewegte sich aber auch nicht - und sahen entsetzt zu der Stelle auf dem Fußboden, wo das verunglückte Gericht vor sich hin dampfte. Keiner sagte ein Wort. Es schien, als würden alle die Luft anhalten. Ich glaube, in unserer Küche war es noch nie so still gewesen.
Irgendwann fand ich heraus, dass Tayfun das Fasten offenbar nicht so ernst nahm wie ich. Er schummelte, verputzte zwischendurch heimlich etwas, später setzte er gleich ganze Tage aus und noch später, als er seine Ausbildung begonnen hatte, verschob er das Fasten mal eben aufs Wochenende, bis er es im letzten Ramadan ganz bleiben ließ. Das machte Baba unglücklich, sodass er in einem ernsten Vater-Sohn-Gespräch versuchte, ihn an seine Pflicht als Muslim zu erinnern und umzustimmen. Vergeblich, für Tayfun hatte sich das Thema erledigt. Als Baba damit trotzdem nicht aufhören wollte, immer wieder stichelte, schrie mein Bruder ihn an: »Na schön, dann seid ihr eben alle bessere
Weitere Kostenlose Bücher