So wirst du stinkreich im boomenden Asien: Roman (German Edition)
Polizei. Wenn du nun durch die Straßen der Stadt radelst, weißt du, dass du kein isoliertes und verarmtes Individuum bist, leichte Beute der Starken in der Gesellschaft, mit einer Ohrfeige zu bestrafen, weil du ohne eigenes Verschulden in einen Unfall zwischen deinem Fahrrad und einem Auto verwickelt warst. Nein, du bist Teil von etwas Größerem, etwas Rechtschaffenem. Etwas, was, falls genötigt, absolut furchterregend ist.
Auf deiner Fahrt siehst du auf einem riesigen Reklameplakat das hübsche Mädchen. Sie modelt für Jeans. Sie steht als eine von drei jungen Leuten da, zwei Frauen und ein Mann, die beiden anderen lehnen mit dem Rücken aneinander, dem Betrachter ihre Seite zugewandt, sodass sie dir den Eindruck vermitteln, sie seien ein Paar, während das hübsche Mädchen allein steht, vielleicht andeutet, dass sie single ist. Dieses riesige Bild löst widerstreitende Gefühle in dir aus. Wie immer bist du von ihrer Schönheit berührt, und du bist froh, sie sehen zu können. Gerüchteweise hast du im Viertel gehört, dass sie sich von dem Mann, mit dem sie weggelaufen ist, getrennt hat, und dieses Arrangement, das den Eindruck ihrer Verfügbarkeit bewirkt, ist für dich erfreulich. Zugleich empfindest du aber auch ein stechendes Verlustgefühl, verschärft noch dadurch, dass die Handynummer, die du von ihr hattest, gleich nach ihrem Weggang tot war und dass du nie wieder mit ihr gesprochen oder sie leibhaftig gesehen hast.
Dem hübschen Mädchen ist es letztlich gelungen, sich einen eigenen Raum zu schaffen, ein Zimmer in einer Wohnung, die sie mit einer Sängerin und einer Schauspielerin teilt, beides Frauen in Verhältnissen, die dem ihren nicht unähnlich sind. Der Marketingmanager ist passé, stattdessen hat sie jetzt eine Gelegenheitsbeziehung mit einem Fotografen, einem langhaarigen Burschen mit einem teuren Motorrad, der angeblich bisexuell ist. Das hübsche Mädchen verdient sich mit Magazin- und Laufstegarbeit ein bescheidenes Einkommen, sie muss sich noch einen Namen machen, wie man das in der Branche nennt. In diesem Moment steht sie, eben erst wach geworden – das Mittagessen hat sie ausfallen lassen –, in ihrem Wohnzimmer auf, zieht an einer Mentholzigarette und betrachtet im Fenster ein paar einzelne Wolken, blutrot vom Staub.
Unter diesen Wolken steigst du vom Fahrrad. Dein Vater hat dich nach Hause gerufen, weil es deiner Mutter nicht gut geht. Deine Schwester ist wieder schwanger, sie kann also nicht kommen, aber dein Bruder und seine Frau sind da. Die unansehnliche Schwellung am Hals bestürzt und beschämt deine Mutter.
»Hätte ich nicht meine Titten«, sagt sie, »würde mich jeder für einen Frosch halten.«
Trotz ihres Zustands ist die Eindringlichkeit in ihren Augen ungebrochen. Leider ist viel Zeit vertan worden. Ihre sonstige körperliche Robustheit hat deine Mutter dazu verleitet, die Symptome zu ignorieren. Dann hat ihr monatelang ein Kräuterhändler aus dem Viertel seine Pülverchen gegeben, ohne positive Wirkung. Der daraufhin herbeigerufene sogenannte Arzt begann mit einer Behandlung, die erst gestoppt wurde, als du, nachdem du einmal zufällig einer beigewohnt hast, festgestellt hast, dass er ihr ausschließlich Kochsalzspritzen und Schmerzpillen verabreicht hat.
Dein Vater hat die Matriarchin der Familie, in deren Diensten er gegenwärtig steht, eine ehemals knauserige Witwe, die sich seit dem Ableben ihres Mannes in Maßen philanthropisch betätigt, um Hilfe angefleht, und sie hat eingewilligt, mit der Vermittlung eines Besuchs in einer Privatklinik tätig zu werden.
Die Matriarchin trifft mit ihrem Wagen vor eurem Haus ein. Sie steigt nicht aus, öffnet auch nicht die Tür. Auch das Fenster lässt sie nicht herunter. Deine Mutter und Schwägerin werden neben sie auf die Rückbank befördert, dein Vater kommt nach vorn zum Fahrer. Du und dein Bruder fahrt mit dem Bus hinterher und stoßt in einem Wartezimmer der Klinik dazu.
»Warum sind die hier?«, fragt die alte Dame deinen Vater.
»Das sind meine Söhne.«
Das zeigt offenbar wenig Wirkung.
Dein Vater setzt hinzu: »Der hier geht auf die Universität. Er wird verstehen, was der Arzt sagt.«
Die alte Dame mustert dich, deinen Bart, deine Kleidung. Sie wendet sich wieder an deinen Vater: »Nur einer kommt mit hinein.«
»Er«, sagt dein Vater und zeigt auf dich.
Die Ärztin ist eine rundliche, ernste Frau im Alter deiner Mutter. Nach der Untersuchung lautet die Diagnose Schilddrüsenpapillom. Das wird
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